Unternehmerische Säuberung

Die rassistische Gewalt in Russland eskaliert. Nach sechstägigen Angriffen flohen die meisten Migranten aus der Kleinstadt Kondopoga. von ute weinmann, moskau

Die verschlafene karelische Kleinstadt Kondopoga mit ihren 40 000 Einwohnern war bis vor kurzem allenfalls dafür bekannt, dass dort eine der wenigen noch erhaltenen Holzkirchen steht. Bis sie über Nacht in ganz Russland zum Sym­bol für gewalttätige ethnische Auseinandersetzungen wurde. Dabei lässt das Stichwort »ethnischer Konflikt« zunächst eher an den russischen Süden denken als an den vergleichsweise ruhigen Norden.

Der Auslöser für die sechs Tage lang andauernde Serie von pogromartigen Straßenkrawallen, Brandstiftungen und Plünderungen, begleitet von einer Hetzkampagne gegen Kaukasier, war eine Massenschlägerei im Restaurant »Tschajka« in der Nacht auf den 30. August. Einige der russischen Gäste in der von Aserbaidschanern geführten Kneipe sollen sich geweigert haben, ihre Zeche zu begleichen. Die Miliz erschien trotz eindringlicher Aufforderung nicht, stattdessen nahm sich der herbeigerufene Wach­schutz, eine Gruppe tschetschenischer Männer, des Falles an. Bei der folgenden brutalen Prügelei kamen zwei russische Männer ums Leben, mehrere Personen trugen Verletzungen davon.

Im Anschluss daran begannen Bewohner von Kondo­poga mit der Zerstörung mehrerer Läden und setzten das »Tschajka« in Brand. In den folgenden Tagen beteiligten sich über 100 Personen an weiteren Angriffen, die sich gegen von kaukasischen Geschäfts­leuten geführte Bars und Lebensmittelläden richteten. Es erfolgten insgesamt 129 vorübergehende Festnahmen, gegen zahlreiche Personen wird wegen Aufhetzung zu Massenunruhen ermittelt. Genaue Angaben über Opfer der Gewaltexzesse liegen nicht vor, ein Großteil der aus Aserbaidschan, Tschetschenien und Mittelasien stammenden 300 bis 400 Menschen nicht russischer Herkunft verließ fluchtartig die Stadt. Die örtliche Verwaltung reagierte prompt und kündigte den geflohenen Händlern die Verträge für langfristig gemietete Marktstände. Damit erfüllte sie die auf einer Kundgebung artikulierten Forderungen des aufgebrachten russischen Mobs.

Der Gouverneur von Karelien, Sergej Katanandow, zeigte Verständnis für die Ausschreitungen und wurde von Jevgenij Rojzman, einem Parlaments­abgeordneten der Partei »Leben«, unterstützt. In einem Gespräch mit der russischen Nachrichten­agentur Rosbalt gab Rojzman weit verbreitete Klischees zum Besten, die als vermeintliche Ursachenanalyse herhalten müssen: »Dort wissen doch alle, welche Regeln die kriminelle tschetschenische Ban­de aufgestellt hat. Deren Anführer fahren Mercedes-Limousinen ohne Nummernschilder und bereiten der Bevölkerung und den Geschäftsleuten nur Probleme.«

Nach Angaben von Generalmajor Dmitrij Michai­low, dem Innenminister der Republik Karelien, sind »die eigentlichen Gründe in den Streitfragen bezüglich städtischen Eigentums« zu suchen, wie er der Tageszeitung Kommersant mitteilte. Magomed Matijew, einer der Anführer der tschetschenischen Diaspora in Karelien, teilt diese Ansicht. Die Pogrome hätten örtliche Kriminelle zu verantworten, deren Ziel es sei, alle tschetschenischen Unternehmer aus der Stadt zu verjagen oder aber zur Zahlung von Schutzgeldern zu zwingen. Schließ­­lich sei die Weigerung der Tschetschenen, den Zahlungsaufforderungen nachzukommen, der Anlass für den Konflikt im »Tschaj­ka« gewesen.

Tatsächlich zeichnet sich in Kondopoga ein für die russischen Regionen ohne Öl- oder Gasvorkommen geradezu idealtypisches Gesamtbild ab. Mit einem holzverarbeitenden Betrieb kann die Stadt lediglich ein großes Unternehmen vorweisen, die Mehrheit der Bevöl­kerung lebt von schlecht bezahl­ten pre­kären Jobs im Dienstleistungs­be­reich. Die wirklich lukrativen Geschäfte wickeln die lokalen und regionalen Macht­haber unter sich ab, die Korruption blüht. Zugleich haben sich aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und vor allem aus dem Kaukasus Zugereiste in vielen Städten längst etabliert und durch den Handel mit Lebensmitteln oder das Betreiben von Res­taurants und Cafés ein gewisses Vermögen erwirtschaftet. Politische Macht und der Aufstieg innerhalb des lokalen russischen Establishments bleiben ihnen hingegen ver­wehrt. In den Augen der ökonomischen Verlierer bestätigt dieser Status nur die Gewissheit, dass sich die »Fremden« den rus­sischen Sitten nicht anpassen wollen. Dass allerdings im »Mercedes ohne Nummernschil­der« Kriminelle nicht nur tschetschenischer, sondern jedweder nur erdenklichen Herkunft herumfahren, steht dabei nicht zur Debatte.

Seit Jahren wächst die Zahl rassistischer Gewalttaten stetig, und es ist abzusehen, dass die Eskala­tion weiter wachsen wird. Auch in anderen Regionen, so beispielsweise in Wolsk im Saratower Gebiet oder in Salsk in der Region Rostow, gerieten in den vergangenen Wochen Schlägereien bzw. Schie­ßerein zwischen Russen und Nichtrussen außer Kontrolle. Kriminelle Machenschaften der Beteiligten spielen dabei meist nicht nur eine untergeordnete Rolle.

Kondopoga steht auch für eine neue Qualität rechtsextremistischer Eskalationstaktiken. Unmittelbar nach Beginn der Pogrome verbreitete die DPNI (Bewegung gegen illegale Immigration) den Aufruf, »Brigaden zur Unterstützung der Rus­sen« in Karelien zu bilden. Zumindest ein Teil der dort Festgenommenen war deswegen angereist. Propagandistisch schlachtet die DPNI den Vorfall mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus. Dass dieses Mal Russen als Todesopfer zu beklagen waren, dient als zusätzliche moralische Recht­fertigung für den Kampf gegen missliebige Immigranten.

Doch das Vorgehen der DPNI findet keine ungeteilte Zustimmung. Am 17. September griffen militante Antifaschisten etwa 50 Anhänger der DPNI an, die sich zu einer Kundgebung im Stadtzentrum von St. Petersburg zusammengefunden hatten. Die Antifaschisten begründeten ihr Vorgehen mit der Rolle der DPNI in Kondopoga. Drei Tage zuvor war der Angriff auf eine Versammlung der DPNI in Mos­kau durch das Einschreiten der Miliz zwar ver­eitelt worden, dafür attackierten die Antifaschis­ten Besucher eines Konzerts rechtsex­tremer Gruppen im Klub »Totschka« und kurz darauf in der Stadt Rjazan. Offensichtlich um sich zu rächen, fielen rechte Skinheads über Besucher eines Ska-Konzerts in Moskau her und fügten diesen teils schwere Stichwunden zu. Allerdings stellte sich anschließend heraus, dass es sich bei den Angegriffenen ebenfalls um Anhänger der rechten Szene handelte.

Obwohl auch der Widerstand stärker wird, gibt es keinen Anlass zum Aufatmen. Denn schon gibt es ein neues Todesopfer rechter Gewalt. Am 24. September wurde der indische Student Singha Nitesch Kumara im Zentrum von St. Petersburg ermordet.