Anja Bensinger-Stolze, Gewerkschafterin, im Gespräch über Bildungs­förderung

»Viele Schüler:innen werden früh eingeschränkt«

Anfang Februar einigten sich Bund und Länder nach langen Verhand­lungen auf das sogenannte Startchancen-Programm, in dessen Rahmen beide zu gleichen Teilen über zehn Jahre 20 Milliarden Euro in rund 4.000 sogenannte Brennpunktschulen investieren werden. Erstmals wurden bei den Kriterien zur Mittelvergabe Migrations­hintergrund und Armutsquote bei der Schülerschaft gesondert berücksichtigt. Ein Gespräch mit der Gewerkschafterin Anja Bensinger-Stolze über Bildungsgerechtigkeit und Finanzierung.
Interview Von

Mit dem »Startchancen-Programm« des Bundes sollen besonders Schulen mit einem hohen Anteil benachteiligter Schülerinnen und Schüler gefördert werden. Kerngedanke ist dabei, für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Wie kam es dazu, dass eine Summe von 20 Milliarden Euro über zehn Jahre notwendig ist?
Das ist eine gute Frage, die nicht einfach zu beantworten ist. Bildungsstudien wie die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) und die Pisa-­Studien stellten in den vergangenen Jahren fest, dass mehr als ein Viertel der Schüler:innen in Deutschland den Mindeststandard nicht erreicht. Als die Pisa-Studien der OECD im Jahr 2000 eingeführt wurden, haben sie zum ersten Mal wissenschaftlich belegt, dass der Bildungserfolg in Deutschland sehr eng mit dem sozioökonomischen Status einer Familie verknüpft ist. ­Viele Kinder aus armen Familien haben also durch ihre soziale Herkunft deut­liche Nachteile in der Schule gegenüber ihren Mitschüler:innen aus gutbetuchten Haushalten.

»Man muss konstatieren, dass die Schulen seit Jahren nicht gut genug ausgestattet werden.«

Sie müssen deshalb stärker als bisher unterstützt werden. Vor diesem Hintergrund ist die Initiative natürlich gut. Denn man muss konstatieren, dass die Schulen seit Jahren nicht gut genug ausgestattet werden. Allerdings müssten die Bundesregierung und die Länder das Startchancen-Programm verstetigen und ausbauen. Es erreicht ab dem nächsten Schuljahr nur zehn Prozent aller Schüler:innen, obwohl wir wissen, dass über 20 Prozent arm oder armutsgefährdet sind.

Korreliert der sozioökonomische Status mit dem Bildungserfolg in Deutschland stärker, als das in ­anderen EU-Ländern der Fall ist?
Ja, das ist so. Das hat auch etwas mit der frühen Segregation in unserem Schulsystem zu tun: In Deutschland werden die Kinder in fast allen Bundesländern bereits nach der vierten Klasse in Gymnasien und andere Schulformen einsortiert. Die Chancen vieler Schü­ler:innen werden damit sehr früh eingeschränkt. In anderen Ländern der EU, insbesondere in den skandinavischen, ist das nicht so: Dort lernen Schüler:innen gemeinsam bis zur zehnten Klasse und entscheiden sich dann, ob sie in die Oberstufe gehen oder eben nicht. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert daher auch für Deutschland die gemeinsame Sekundarstufe I, also ein möglichst langes gemeinsames Lernen aller Kinder.

Im Vergleich zu den Gesamtausgaben der öffentlichen Haushalte für Bildung, die 2022 bei rund 176 Mil­liarden Euro lagen, erscheinen zwei Milliarden jährlich als milde Gabe. Auch ist die Summe nicht preisbereinigt, während der Lehrkräftemangel wächst. Reicht das Geld?
Nein, dafür sind die Probleme zu groß geworden. Sowohl die Projektlänge des Startchancen-Programms als auch die Investitionssumme reichen nicht aus. Es müssen grundsätzlich dort Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, wo sie am dringendsten gebraucht werden – bei den armen Familien und Kindern. Vor dem Hintergrund des wachsenden Lehrkräftemangels braucht es einen bundesweiten Masterplan, der auch beinhaltet, wie ausreichend gutqualifiziertes Personal an alle Schulen kommt.

»Allein der Sanierungsstau bei den Schulgebäuden beläuft sich nach Angaben der Kreditanstalt  für Wiederaufbau auf rund 45 Milliarden Euro.«

Die neue Qualität des Startchancen-Programms liegt darin, dass der Bund mitfinanziert und zum ersten Mal ein Teil des Geldes nach Sozialindex verteilt wird. Denn Bildung ist im Wesentlichen Sache der Länder, die sich das auch nicht nehmen lassen. Aber einige Bundesländer haben größere Schwierigkeiten als andere, ihren Etat zu stemmen. Bremen, wo viele Strukturen mit wenig Geld existieren, braucht mehr Geld als Bayern. Die GEW schlägt vor, deutlich mehr Mittel als geplant nach Sozialindex zu verteilen. Der Bund muss mehr Verantwortung in der Bildung übernehmen und ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro auflegen. Aus diesem ­sollen dann zusätzliche Mittel in das Startchancen-Programm fließen. Das Sondervermögen ist bitter notwendig: Allein der Sanierungsstau bei den Schulgebäuden beläuft sich nach Angaben der Kreditanstalt für Wiederaufbau auf rund 45 Milliarden Euro.

Das Projekt sieht auch eine unterschiedliche Verteilung je nach Schulform vor. Für Grundschulen sollen 60, an weiterführende oder berufsbildende Schulen 40 Prozent der Gelder bereitgestellt werden. Wie stehen Sie zu diesem Entschluss?
Das ist ein guter Anfang. Gerade in den Grundschulen ist die Problematik sehr groß, weil diese jahrelang in der Finanzierung benachteiligt wurden. Dabei ist diese Schulform für den Werdegang der Schüler:innen entscheidend. Sie lernen dort nicht nur Rechnen, ­Schreiben und Lesen, sondern auch, ihren Schulalltag zu gestalten. Allerdings engt diese Verteilung der Mittel eine deutlich bessere Förderung der ­älteren Schüler:innen ein, weil die Gesamtsumme des zur Verfügung stehenden Geldes zu gering ist.

Nach welchen Kriterien werden die Fördermittel auf Länder und Schulen verteilt?
Die Verteilung an die Länder fällt entsprechend der drei sogenannten Säulen des Programms unterschiedlich aus. Die erste Säule umfasst Investitionen in die Lernumgebung. Um diese Gelder gerechter nach Bedarf an die Schulen zu geben, hat man einen Sozialindex entwickelt. Dabei werden der Migrationshintergrund und die Armutsquote mit jeweils 40 Prozent berücksichtigt, das sogenannte negative Bruttoinlandsprodukt des Bundeslands wird mit 20 Prozent eingerechnet. Ob dabei die richtigen Indikatoren gewählt worden sind, muss allerdings noch evaluiert werden. Grundsätzlich ist es richtig, wenn die Gelder nicht mehr nach dem Königsteiner Schlüssel – also allein nach Einwohnerzahl und Steueraufkommen der Länder – verteilt werden. Die Mittel für die zweite Säule, das »Chancenbudget«, und die dritte Säule, die Stärkung multiprofessioneller Teams, werden wie üblich per Gießkanne nach dem herkömmlichen Schlüssel vergeben. Welche Schulen hingegen in den Genuss dieses Gelds kommen, entscheiden die jeweiligen Länder auch nach einem Sozialindex. Wie der aussieht, ist nach meiner Kenntnis nicht vereinbart. Das heißt, die Indikatoren können je nach Land variieren.

Die Schulen erhalten Gelder projektbezogen, obwohl der Bedarf sich mitunter unterscheiden kann. Wie läuft das konkret ab?
Beim »Chancenbudget« können die jeweiligen Schulen selbst entscheiden, wofür sie das Geld einsetzen: Haben die Schüler:innen sprachliche Probleme? Oder liegen diese eher im mathematischen oder im sozialen Bereich? Muss mehr in Schulsozialarbeit investiert werden? So können Schulen auch e­inzelne Schüler:innen gezielt unterstützen.

Auch wenn die Schule das Geld frei verteilen kann, bleibt doch der Mangel an Lehrkräften …
Das Problem ist immens und das macht die Sache mehr als schwierig. In Bremen gibt es Schulen, an denen keine grundständig ausgebildeten Lehrkräfte mehr arbeiten. Um dem Lehrkräftemangel entgegenzutreten, muss die Kultusministerkonferenz weitere Anstrengungen unternehmen und besser koordinieren als in der Vergangenheit, müssen die Länder gemeinsame Vereinbarungen abschließen und insbeson­dere die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte verbessern.

»Viele Schulgebäude wurden über Jahre nicht renoviert oder gar saniert. Da haben die Regierungen lange gespart, Infrastruktur kaputtgespart.«

Wenn das Startchancen-Programm gelingen soll, muss in den Schulen auch eine andere Sichtweise auf das System Schule und den Unterricht entwickelt werden. Das geht nur mit gutqualifizierten Pädagog:innen, sonst bleibt das Programm ein Tropfen auf den heißen Stein. Für eine Veränderung in der Unterrichts- und Schulentwicklung müssen alle drei Säulen ­genutzt werden: das Lernumfeld, die Lernkompetenz und die Arbeit in ­multiprofessionellen Teams.

Diesbezüglich spricht die Bundesregierung von einer Stelle für Sozialarbeit mehr pro Schule, die über die Förderung finanziert werden soll. Wie zielführend ist das, bei Schulen mit zu wenigen Lehrkräften und mehr als 1.000 Schüler:innen?
Eine Stelle hört sich nach wenig an. Aber für viele Schulen im Grundschulbereich oder in der Sekundarstufe I ist es sehr wichtig, Schüler:innen aus finanziell benachteiligten Verhältnissen frühzeitig zu unterstützen. Wenn diese einen Abschluss machen und in den Beruf finden, ist das eine Investition in die Zukunft – persönlich und gesellschaftlich. Aber auch hier gilt: Die Länder müssen neben der Förderung durch die Bundesebene selbst mehr als bisher investieren und je nach Bedarf zusätzliche Schulsozialarbeit und weitere Beratungsdienste möglich machen.

Der Großteil des Budgets ist für das Lernumfeld, also die Infrastruktur und Ausstattung der Schulen vorgesehen. Vorhin sprachen Sie von einem Sanierungsbedarf von 45 Milliarden Euro. Woran fehlt es denn?
Viele Schulgebäude wurden über Jahre nicht renoviert oder gar saniert. Da haben die Regierungen lange gespart, Infrastruktur kaputtgespart. Die Mittel aus dem Startchancen-Programm können dieses Defizit nicht kompen­sieren und würden dann auch ihren Zweck verfehlen. Für die Sanierung brauchen die Schulen weitere Mittel. Selbst wenn dieser Sanierungsstau aufgelöst würde, sind damit noch keine Schulen gebaut, die modernen pädagogischen Bedürfnissen gerecht werden, wie Räume für Gruppenarbeit bereitzustellen, und den Anforderungen ­eines Ganztagsbetriebs genügen, für den auch Küchen und Mensen erforderlich sind.

In Bundesländern wie Hessen wurden viele Mittel bei dem Wechsel zum achtjährigen Gymnasium bereitgestellt, auch um neue Mensen für den Nachmittagsunterricht zu bauen. Wurde da eine Chance verpasst, andere Schulformen wie die Grundschule entsprechend auszubauen?
Das Grundproblem lautet: Das Schulsystem ist seit Jahren unterfinanziert. Wenn dann die Verteilung in Richtung einer Schulform geht, die in der Regel besser aufgestellt ist, wird die Sache schwierig. Die GEW begleitet auch die Digitalisierung an den Schulen und stellt bis heute fest, dass es in bestimmten Gebieten kein WLAN gibt oder die Ausstattung überholt ist. Häufig sind Gymnasien da besser ausgestattet. Das führt dazu, dass die soziale Spaltung immer größer wird.

*

Anja Bensinger-Stolze

Anja Bensinger-Stolze arbeitet seit 2021 im Geschäftsführenden Vorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für den Bereich Schule. Die ehemalige Lehrerin unterrichtete von 1991 bis 2013 Deutsch und Politik an einer Gesamt- und Stadtteilschule in Hamburg. Von 2013 bis 2021 war sie dort GEW-Landesvorsitzende.

Bild:
privat