Im Rassemblement national gibt es Auseinandersetzungen über Sozialdemagogie versus Wirtschaftsliberalismus

Rechtsextremer Richtungsstreit

Der Rassemblement national verfolgte lange eine populistische, sozialdemagogische Strategie. Doch nun erstarkt ein Lager, das »traditionelle Werte« und eine wirtschaftsliberale Ausrichtung vertritt.

Bald soll Ambroise de Rancourt die Leitung des Büros von Marine Le Pen übernehmen. Der 37jährige, Spross einer alten Adelsfamilie, ist Absolvent der traditionellen Elitehochschule für den höheren Staatsdienst ENA, zuletzt arbeitete er als Beamter im Verteidigungsministerium. Am 1. November soll er Stabschef im Büro von Le Pen werden, die seit 2022 die Parlamentsfraktion des rechtsextremen Rassemblement national (RN) leitet und vorhat, 2027 zum vierten Mal als Präsidentschaftskandidatin anzutreten.

Die Personalie wirft Licht auf einen Richtungsstreit, der die Partei derzeit erfasst. Denn Rancourt ist akzeptabel für beide Seiten, die Sozialpopulisten einerseits, die Traditionalisten andererseits.

Er zählt zu jenen, die aus der Linken zur extremen Rechten übergelaufen sind: 2017 unterstützte er noch die links­populistische Wahlplattform von Jean-Luc Mélenchon, La France insoumise (LFI, Das unbeugsame Frankreich).

Das neue Wirtschaftsprogramm des RN sieht Steuererleichterungen für Unternehmen vor und Spar­maßnahmen in Krankenhäusern sowie dem öffentlichen Schulsystem.

Rancourt politisierte sich in der Zeit nach den islamistischen Attentaten 2015 und war stets ein Gegner dessen, was man in bestimmten Kreisen als »Globalismus« bezeichnet. Und LFI hatte damals noch einen Flügel, der auf eine Querfront abzielte und sich als souveränistisch bezeichnete. Dieser strebte danach, Unzufriedene aus allen politischen Lagern zu sammeln und eine hauptsächlich gegen die EU gerichtete Protestpartei aufzubauen – jenseits der alten Gräben und der angeblich hinfälligen Unterscheidung zwischen links und rechts.

Dieses Lager konnte sich allerdings nicht recht durchsetzen. Eine Mehrheit bei LFI zog eine Zusammenarbeit mit anderen linken Kräften vor und prägte den Kurs der Partei. Mehrere Vertreter des souveränistischen Lagers von LFI landeten beim RN, wie der auch landesweit prominente Lyoner Regionalparlamentarier Andréa Kotarac, oder bei dem rechten Magazin Front populaire, wie dessen regelmäßiger Autor Georges ­Kuzmanovic.

Auf der anderen Seite besitzt Rancourt Verbindungen zu traditionalistischen Kreisen der Rechten, was mit seiner Herkunft aus Versailles – eine ihrer langjährigen Hochburgen – zusammenhängt. In diesem Milieu zählt er zu den persönlichen Bekannten von Renaud Labaye, dem Fraktionsgeschäftsführer des RN in der Nationalversammlung, sowie dem Unternehmer François Durvye.

Hohe Summen für rechte Projekte

Dieser leitet die Investmentfirma Otium Capital. Er gilt als einer der aufstrebenden Financiers des RN und als Mitglied der sogenannten Versailles connection um den ebenfalls aus der Stadt stammenden Milliardär Pierre-Édouard Stérin. Dieses Netzwerk arbeitet seit rund einem Jahr daran, die bislang bei der Finanzierung der Partei dominierende »GUD connection« zu ersetzen. Letztere besteht aus den »alten Herren« der gewalttätigen faschistischen Hochschulgruppe Groupe union défense (GUD), wie dem RN-Politiker Axel Loustau und der Unternehmer Frédéric Chatillon. Der 1968 gegründete GUD war bis in die späten Neun­ziger aktiv, wurde vor einigen Jahren wiederbelebt und dann am 26. Juni verboten, nachdem Mitglieder der Gruppe Homosexuelle und antifaschistische Demonstranten angegriffen hatten.

Die »Versailles connection« ist offenbar bereit, hohe Summen zu investieren. Der im belgischen Steuerexil lebende Milliardär Stérin gründete eine Organisation namens Plan Périclès, die plant, in den kommenden zehn Jahren 150 Millionen Euro auszugeben. Das geht aus internen Dokumenten hervor, über die die KP-nahe Tageszeitung L’Humanité kürzlich berichtete.

Damit sollen unterschiedlichste Projekte verfolgt werden, zum Beispiel Kaderschulung und -förderung, Unterstützung im Wahlkampf für rechte Parteien und Verfassungsklagen mit Hilfe eines eigenen Teams von Juristen. Das Projekt ist wirtschaftsliberal ausgerichtet und für »traditionelle Werte«, seine erklärten Feinde sind neben dem sogenannten Wokismus, dem Islam und der Einwanderung auch der Sozialismus, der »überbordende« Sozialstaat und die »Hyperbürokratie«.

Wähler der stramm konservativen Parteien gewinnen

Diese Ausrichtung passt nur bedingt zur bisherigen Strategie des RN. Stérin ist militanter Katholik, Abtreibungsgegner und Kämpfer gegen die gleichgeschlechtliche Ehe. Gerade diese Themen hat Marine Le Pen in den vergangenen Jahren eher gemieden. Als Anfang des Jahres das Recht auf Abtreibung in die französische Verfassung aufgenommen wurde, stimmte Le Pen nach einigem Hin und Her sogar dafür.

Ihrer Auffassung nach gibt es für die Partei bei solchen gesellschaftspolitischen Themen politisch nichts zu gewinnen. Stattdessen müsse sich der RN als »weder links noch rechts« dar­stellen und sich auf soziale Themen konzentrieren, auf die Höhe des Lohns, die Rente oder die Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen. Auch mit dieser Ausrichtung blieb der RN eine faschistoide und rassistische Partei, er zielte aber vor allem auf »Abgehängte« und ehemalige Wähler der Linken, weniger auf die traditionellen erzkonservativen Milieus.

Doch nun zeichnet sich für den RN die Möglichkeit ab, verbliebene Wähler der stramm konservativen Parteien zu gewinnen, wie die der Partei Les Républicains (LR). Das zeigte sich bei den jüngsten Parlamentswahlen, bei denen der LR-Vorsitzende Éric Ciotti ein Bündnis mit dem RN ankündigte; kurz ­darauf wurde er aus der Partei ausgeschlossen.

Nationalliberale Maßnahmen zugunsten des Kapitals

Diese Entwicklung – weg von der Sozialdemagogie hin zu klassischen rechten ökonomischen Positionen – spiegelt sich in dem wirtschaftlichen Kurzprogramm wieder, das die Parlamentsfraktion des RN am 14. September vorlegte. Es trägt die Handschrift von François Durvye, der zu den wirtschaftspolitischen Beratern der Parteiführung zählt. Er fasste das Programm in Le Monde folgendermaßen zusammen: »Der Staat muss im Dienste der Wirtschaft stehen und nicht umgekehrt.« Das Programm sieht verschiedenste Steuererleichterungen und Subventionen für Unternehmen vor und Sparmaßnahmen in Krankenhäusern sowie dem öffentlichen Schulsystem.

Neben solchen nationalliberalen Maßnahmen zugunsten des Kapitals fordert das Kurzprogramm aber auch explizite Diskriminierung: Wann immer sich ein französischer Staatsbürger für einen Arbeitsplatz bewirbt, soll er ein einklagbares Recht auf Einstellungsvorrang vor jedem Ausländer besitzen, sofern er die erforderlichen Qualifikationen aufweist. Begründet wird dies damit, dass Inländer sich angeblich bereitwilliger gewerkschaftlich organisierten als Ausländer, denen die sozialen und kulturellen Voraussetzungen fehlten und die deswegen für Lohndumping anfällig seien. Allerdings ist das Programm zugleich gewerkschaftsfeindlich, jedenfalls was firmenübergreifende, geschweige denn branchenübergreifende Beschäftigtenorganisationen betrifft. Es will die Gründung von auf die einzelnen Unternehmen beschränkten »Hausgewerkschaften« begünstigen – die in der Praxis regel­mäßig deutlich weniger kampfkräftig sind als landesweite Gewerkschaften.

Ambroise de Rancourt hat den Vorteil, dass er, je nach Ausgang des Richtungsstreits beim RN, beide Optionen vertreten könnte. Als ehemaliges kurzzeitiges LFI-Mitglied könnte er sich als Vertreter des »Weder links noch rechts«-Kurses aufspielen. Mit seinem Versailles-Hintergrund wiederum könnte er aber auch einen expliziten rechtsextremen Kurs in Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgen.