Es gibt mehr Armut, als die Statistik verrät

Netto in Europa

In vielen EU-Ländern stiegen während der jüngsten Teuerungswelle die Gewinnmargen der Unternehmen, was – anders als die Lohnentwicklung – erheblich zum Preisauftrieb beitrug. Am Ende stiegen zwar auch die Löhne und die Inflation sank. Aber die Reallöhne gingen im EU-Durchschnitt deutlich zurück. Das heißt, man kann sich von seinem Gehalt weniger leisten als zuvor.

Die EU sitzt in der Patsche. Nach außen rücksichtslos abgeriegelt, im Inneren werden die Rechten immer stärker, und jetzt geht den Menschen auch noch das Geld aus. Wohl gemerkt, den Lohnabhängigen – nicht den Konzernen. Denn in vielen EU-Ländern stiegen während der jüngsten Teuerungswelle die Gewinnmargen der Unternehmen, was – anders als die Lohnentwicklung – erheblich zum Preisauftrieb beitrug. Am Ende stiegen zwar auch die Löhne und die Inflation sank. Aber die Reallöhne gingen im EU-Durchschnitt deutlich zurück. Das heißt, man kann sich von seinem Gehalt weniger leisten als zuvor.

Armut ist oft auch Erwerbsarmut, betrifft also jene, die einer Lohnarbeit nachgehen. 

In Deutschland stieg zum Beispiel das mittlere Einkommen nach Angaben des Statistischen Bundesamts von 2022 auf 2023 um 5,1 Prozent. Die Teuerungsrate lag aber bei 5,9 Prozent. Gewerkschaften versuchten, die Inflation mit hohen Tarifabschlüssen auszugleichen, und auch die Renten wurden deutlich erhöht.

Unter dem Strich bleibt aber in den Kassen der Haushalte ein Minus. Vor allem bei denen, die ohnehin schon wenig hatten. Die Anhebung des Mindestlohns war deshalb gar keine so dumme Idee, um die unteren Lohngruppen nicht völlig abschmieren zu lassen – sie reicht nur bei weitem nicht aus.

In amtlichen Statistiken kann das Sinken der Realeinkommen sogar noch einen paradoxen Effekt haben: Solange Menschen in Deutschland nämlich über mindestens 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen, gelten sie nicht als armutsgefährdet. Im vergangenen Jahr waren 17,7 Millionen Menschen in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das sind 21,2 Prozent der Bevölkerung.

»Abenteuerlich, maßlos und realitätsfern«

Wenn Reallöhne sinken, dann kann es passieren, dass es zwar mehr objektiv Armut gibt, die aber in der Statistik nicht erfasst wird, weil ­Armut dort relativ zum mittleren Einkommen und nicht etwa anhand der Kaufkraft bestimmt wird. Einen EU-weiten Vergleich des Anteils der von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten Menschen gibt es übrigens nicht. Nur die Hälfte der EU-Staaten veröffentlicht dazu ihre Ergebnisse.

Armut ist oft auch Erwerbsarmut, betrifft also jene, die einer Lohnarbeit nachgehen. Die Gewerkschaft IG BAU fordert jetzt, dass Gebäudereiniger:innen, überwiegend Frauen, künftig drei Euro mehr pro Stunde bekommen sollen. Die Arbeitgeberseite findet das »abenteuerlich, maßlos und realitätsfern«.

Für das laufende Jahr zeichnen sich nach Einschätzung der EU-Kommission in 26 von 27 EU-Staaten Reallohnzuwächse ab. Im Durchschnitt der EU rechnen die Expert:innen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in Düsseldorf mit einer Steigerung der realen Bruttolöhne um zwei Prozent.

Die Verluste der Vorjahre sind damit aber längst noch nicht ausgeglichen. Aus Sicht der Arbeit­neh­mer:in­nen sei damit »die Krise nicht überwunden«, halten die Forscher des WSI fest: »Sie haben den Großteil der realen Einkommenseinbußen getragen, die mit dem Energiepreisschock infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine verbunden waren.«