Für Menschen mit Behinderung bleibt oft nur die Arbeit in Werkstätten

Endstation Werkstatt

Deutschland erfüllt die Vorgaben der UN-Behindertenkonvention nicht. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sind Teil des Problems. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat jüngst einen Aktionsplan hierzu veröffentlicht.

In Zeiten des ethischen Konsums klingt es nett, wenn ein Produkt mit dem Label »Produziert in einer Werkstatt für behinderte Menschen« (WfbM) wirbt. Immerhin erscheine das nach außen wie eine Art Fair-Trade-Label, kriti­siert der Behindertenrechtler Raúl Krauthausen im Gespräch mit der Jungle World.

Dabei bleiben indes die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten unberücksichtigt. Die erhalten in der Regel keinen existenzsichernden Lohn, haben kein Streikrecht, keine Gewerkschaften und anstelle von Betriebsräten nur schwache Werkstatträte. Im Durchschnitt verdienen sie 1,35 Euro pro Stunde. Bei einer Vollzeitbeschäftigung wäre das ein Monatslohn von 216 Euro. Für den Lebensunterhalt sind sie damit zusätzlich auf staatliche Zahlungen angewiesen. Möglich ist all das, da sie nicht als Ar­beit­nehmer:innen gelten, sondern nur einen daran angelehnten Status haben.

Im August kritisierten die UN, dass Deutschland die Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention, die bereits vor 15 Jahren ratifiziert worden war, selbst nach mehrfacher Ermahnung nicht zur Genüge erfülle. Deutschland habe sich verpflichtet, Menschen mit Behinderung die Möglichkeit zu geben, durch eine selbstgewählte Beschäftigung den eigenen Lebensunterhalt zu finanzieren. Doch eine Staatenprüfung habe erwiesen, dass in keinem anderen Land so viele Menschen mit Behinderung in Werkstätten »abgeschoben und in ihren Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt werden«.

»Die Frage nach Inklusion darf nicht bei der Minimalforderung nach gerechterem Lohn enden.« Stefan Schenck, Mitgründer des Projekts Stattwerkstatt

In Deutschland sind das 300.000 Beschäftigte. Nur etwa 0,35 Prozent davon gelingt der Wechsel auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Bereits die damalige Regierungskoalition aus CDU, CSU und SPD gab 2020 eine Untersuchung zu dem Entgeltsystem und dem Wechsel auf den allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung in Auftrag. Die derzeitige Regierung hat im Koalitionsvertrag angekündigt, die Arbeit an einem »transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem« weiterzuführen. Im September veröffentlichte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) schließlich nach mehreren Zwischenberichten den Abschlussbericht der Studie. Darin erkannte man Handlungsbedarf und führte Empfehlungen an, wie das Werkstattsystem reformiert werden könne.

Im April reagierte das BMAS auf diese Ergebnisse mit einem sechsseitigen Aktionsplan, der intern an Verbände geschickt wurde und der Jungle World vorliegt. Er enthält folgende Punkte: mehr Durchlässigkeit von den WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, Verbesserung der individuellen Förderung, mehr Transparenz bei der Entlohnung, höhere Entlohnung.

Aktionsplan ist leeres Wortgeklingel

Der Aktionsplan trifft allerdings auf wenig Begeisterung. »Die Erwartungen der Beschäftigten, die im letzten Jahr noch so hoch waren, werden nicht erfüllt«, sagt Katrin Rosenbaum, Koor­dinatorin des Vereins Werkstatträte Deutschlands, im Gespräch mit der Jungle World.

Ihr Verein vertritt die Inter­essen der Beschäftigten der WfbM auf Bundesebene. Lulzim Lushtaku, seit 2022 im Vorstand des Vereins, zeigt sich im Gespräch mit der Jungle World ebenfalls enttäuscht: »Im Koalitionsvertrag steht, dass man sich das Entgeltsystem nochmal anschaut. Das war auch das Ziel der Studie. Wenn man sich das heute aber ansieht, werden zwei Prozesse erkennbar, die unserer Meinung nach nicht zusammengehören: das Thema der Übergänge und das neue Entgeltsystem. Das finden wir von den Werkstatträten mehr als bescheiden.« Beide halten den Aktionsplan für leeres Wortgeklingel.

Ein Blick ins Papier zeigt, warum: Eine strukturelle Veränderung des Entlohnungssystems sei zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich, heißt es da. Man müsse im Gespräch bleiben und verschiedene Optionen diskutieren, »um eine mach­bare und möglichst breit akzeptierte Lösung zu finden«.

Anteil psychisch erkrankter Menschen fast ein Viertel

Trotz Kritik sehen Rosenbaum und Lushtaku die Werkstätten als Teil eines inklusiven Arbeitsmarkts. »Ich möchte nicht, dass Menschen vor dem Fernseher sitzen bleiben, weil am Ende des Tages doch festgestellt wird, dass keine geeigneten Angebote für den einzelnen geschaffen werden, so dass dieser letztlich isoliert wird«, meint Lushtaku. ­Rosenbaum bedauert die schlechten Übergangs­quoten in den allgemeinen Arbeitsmarkt. Es sei eine politische Aufgabe, geeignete Rahmenbedingungen für Übergänge zu schaffen. »Der Arbeitsmarkt ist noch nicht bereit dafür, Menschen mit Behinderung aufzunehmen.«

Doch viele der Beschäftigten, so Rosenbaum, wollen in den Werkstätten bleiben. Gerade die Zahl psychisch Erkrankter, die sich dem Stress des all­gemeinen Arbeitsmarkts nicht gewachsen fühlen, steige. Nach der Entgelt­studie des BMAS beträgt der Anteil psychisch erkrankter Menschen in den WfbM 23,4 Prozent.

Die Werkstatträte Deutschland treten daher vielmehr für eine Reform der Werkstätten ein. Ein Anliegen sei es, das Entgeltsystem in den Werk­stätten fairer und transparenter zu machen. Fairer, indem die Bezahlung von der Grundsicherung unabhängig mache. Transparenter, indem nach­vollziehbar werde, wie die Werkstätten wirtschaften. Es sei gesetzlich festgelegt, dass 70 Prozent des Erlöses einer Werkstatt an die Beschäftigten aus­gezahlt werden müssen, das reiche jedoch bei Weitem nicht, um ein gutes Entgelt auszahlen zu können. Eine Einführung des Mindestlohns sei schon deswegen nicht möglich und ein steuerfinanzierter Anteil der Bezahlung in jedem Fall unumgänglich.

Über Alternativen informieren 

Die Werkstatträte Deutschland befürchten außerdem, dass eine Einführung des Arbeitnehmer:innenstatus zum Verlust wichtiger Schutzrechte, wie dem Kündigungsschutz und dem Anspruch auf Erwerbsminderungsrente, führen könnte. Als Alternative entwickelten sie das Modell des Basisgeldes, das an das bedingungslose Grundeinkommen angelehnt sei, teilt Rosenbaum der Jungle World mit. »Uns ist es wichtig«, fügt Lushtaku hinzu, »dass wir nicht alle sechs Monate zum Grundsicherungsamt laufen und uns nackt machen müssen, um die Grundsicherung zu bekommen.«

Das Werkstattsystem hat nicht nur Befürworter. »Die Frage nach Inklusion darf nicht bei der Minimalforderung nach gerechterem Lohn enden«, sagt Stefan Schenck der Jungle World. Er setzt sich im Behindertenparlament Berlin auf politischer Ebene für einen inklusiven Arbeitsmarkt ein und berät in dem Projekt Stattwerkstatt junge Menschen mit Behinderungen, die ihre Zukunft nicht in einer Werkstatt sehen. Sein Ziel sei es nicht, die Werkstätten abzuschaffen. Wer in eine Werkstatt wolle, der solle die Möglichkeit dazu haben. Man müsse aber vorher zumindest umfassend darüber informiert werden, welche Alternativen es gebe.

Nach Schencks Ansicht liegt es oft nicht im Interesse von Werkstätten, ihre Beschäftigten zu vermitteln. Gerade jene, die auf dem ersten Arbeitsmarkt gut aufgehoben wären, wolle man in den Werkstätten ungern gehen lassen. 

Schenck hat einen Sohn mit Down-Syndrom, der nach der Schule nicht in einer Werkstatt arbeiten wollte. Trotzdem sei ihm bei einer Beratung der Agentur für Arbeit, die alle Jugendlichen mit Behinderungen im Alter von 18 Jahren bekommen, die Werkstatt als einzige Option empfohlen worden. »Eine Amtsmedizinerin, die an der Beratung beteiligt war, sagte uns tatsächlich im O-Ton: ›Wenn das mein Sohn wäre, würde ich ihn in eine Werkstatt geben. Denn lieber König in der Werkstatt als Letzter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.‹«

Letztlich ist sein Sohn doch auf dem Arbeitsmarkt gelandet – mit der Hilfe einer Arbeitsassistenz. Die dort Tätigen assistieren Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung Hilfe bei der Arbeitsausführung benötigen, ansonsten aber in der Lage sind, ihre arbeitsvertraglichen Pflichten zu erfüllen. Um das finanzieren zu können, musste er für seinen Sohn erst einmal das sogenannte Persönliche Budget erkämpfen, eine Teilhabeleistung für Menschen mit Behinderung.

Schenck spricht sich zwar nicht ­generell gegen Werkstätten aus und begrüßt das Vorhaben einer besseren Bezahlung. Es sei aber eigentlich Aufgabe der Werkstätten, die Beschäftigten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten. Dem kämen sie jedoch nicht nach und schöben die Schuld auf die Situation am Arbeitsmarkt. Nach Schencks Ansicht liegt es oft nicht im Interesse von Werkstätten, ihre Beschäftigten zu vermitteln. Gerade jene, die auf dem ersten Arbeitsmarkt gut aufgehoben wären, wolle man in den Werkstätten ungern gehen lassen. Auf etwa 30 Prozent schätzt Andreas Sperlich, Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen Berlin, deren Anteil deutschlandweit. Diese Kräfte nämlich gelten den Werkstätten als verlässlich. Die Entgeltstudie zeigt: Je länger Menschen in Werkstätten beschäftigt sind, desto weniger von ihnen wollen in den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln. Von denjenigen, die ein bis zwei Jahre in einer Werkstatt tätig sind, hat dem­zufolge mehr als die Hälfte (56,9 Prozent) den Wunsch zu wechseln. Nach zehn Jahren Beschäftigung ist es hingegen nur noch ein Viertel (25,5 Prozent).