Die Ausstellung »Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft« in Berlin

Der Elefant im Raum

Die Neue Nationalgalerie in Berlin zeigt in ihrer neuen Ausstellung ihre Sammlung der Jahre 1945 bis 2000. Während Aktionskunst, Pop Art und vor allem der Kontrast zwischen Kunst dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs eine große Rolle im Konzept spielen, geht der Einfluss der Shoah auf die Kunst unter.

Mit der derzeit laufenden Ausstellung »Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft 1945–2000« stellt die Neue Nationalgalerie in Berlin wieder Werke aus ihrer eigenen Sammlung aus. Das Museum will mit dieser Präsentation einer ganzen Epoche die geschichtlich relevanten Kunstströmungen mit den historisch-gesellschaftlichen Zäsuren vermittelt darstellen. Damit soll ausdrücklich die bestehende Kunstgeschichte »aufgebrochen« werden, damit eine neue »Vielfalt an künstle­rischen Positionen« sowie die »Be­zie­hungen zwischen einzelnen Werken« in einem neuen Licht erscheinen können, wie das Museum informiert. Davon bleibt die Sicht auf die Bedeutung der Shoah für die Kunst nach 1945 nicht unangetastet.

Die Kuratoren, namentlich Joachim Jäger, Maike Steinkamp und Marta Smolińska, ausgewiesene Experten für europäische Kunstgeschichte und die Geschichte des eigenen Hauses, wollen die »fundamentale Neuausrichtung in der bildenden Kunst« nach 1945 unter Berücksichtigung der zeitgeschichtlichen Ereignisse darlegen. Der Titel »Zerreißprobe« referiert dabei auf eine präsentierte Videoarbeit von Günter Brus aus dem Jahr 1970. In dieser verstörenden Performance verletzt sich der österreichische Aktionskünstler mit einer Rasierklinge selbst – eine Reaktion, so die Verantwortlichen, auf die erstarrte »Nachkriegs-Gesellschaft«. Die Arbeit jedenfalls fungiere als »lebendige« und »sinnerschließende Metapher« für die Ausstellung, unter der die Konflikte der Kunst in der Nachkriegszeit aufgerufen werden sollen, so die Kuratoren.

Auch wenn im Begleittext der Ausstellung vereinzelt vom »Holocaust« die Rede ist, wird deutlich, dass die Wirkmacht der Shoah auf die Kunst nach 1945 für die kunsthistorische Expertise eher peripher zu sein scheint.

Die Gegenüberstellung von sozialistischem Realismus und kapitalistischer Abstraktion, also Kunst in Ost gegen Kunst in West, bildet hierbei das Leitmotiv. Berücksichtigt werden neuerdings Werke, die nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik von der Ost-Berliner Nationalgalerie integriert wurden. Wenn es dann im weiteren Verlauf der Ausstellung um »Pop und Propaganda« (1950 bis 1969) geht und man Andy Warhols »Double Elvis« (1963) aus seiner Factory zu Gesicht bekommt, dann wird dem Werk, so der kuratorische Kniff, ein östliches Pendant, namentlich das Gemälde »Leuna 1969« von Willi Sitte, gegenübergestellt. Letzteres, ein »Propagandabild« in Pop-Ästhetik, zeigt die Chemiefab­rik Leuna bei Halle. Durch die Konfron­tation Ost – West, Factory – Fabrik sollen die Werke »in Beziehung treten« und der Besucher soll wohl entscheiden, ob die Vergottung einer Konservenbüchse à la Warhols »Campbell’s Soup Cans« weniger verdinglichend ist als die Fetischisierung eines Industriezweigs. Im Katalogtext kommt Warhol besser weg, da er nicht mit dem Schimpfwort »Propaganda« belegt wird, sondern schillernder als »Leitfigur« der »Pop-Art« tituliert wird.

Derart sollen – im »spannungsreichen Dialog« – 13 weitere Räume im Gang durch die Ausstellung jeweils ein bedeutendes Sujet der Kunstgeschichte von 1945 bis 2000 darstellen. Mit den Titeln wie »Existenzielle Erfahrung« (1946–1953), »Alltag wird Kunst« (1950–1976), »Natur/Kultur« (1969–1979), »Befreiung des Körpers« (1960–1977), »Flüchtige Identitäten« (1986–2000), nach denen die Räume benannt sind, bietet die kuratorische Rahmung auf den ersten Blick nicht die angekündigte neue Per­spektivierung der Kunstgeschichte – wohl aber einen gelungenen Schwerpunkt im letzten Teil auf feministische Interventionen. Verdienstvoll erscheint, dass Arbeiten von Frauen relativ breiten Raum einnehmen (nach Angabe der Kuratoren 25 Prozent der Exponate) und damit der bestehende Kanon erweitert wird. Allerdings bleibt in den Ausstellungstexten die Vermittlung, wie die Kunstwerke historisch zustande gekommen sind, auf der Strecke, was bereits im ersten Saal deutlich wird.

Diffuser Dämmerzustand

Realistische Figuration trifft dort auf abstrakte Expression, entstanden in den Jahren 1950 bis 1962. Arbeiten von Pablo Picasso, Judit Reigl und Louis Morris hängen neben Werken von Horst Strempel und Boris Nemenskij. Die angestrebte Dichotomie – hie westliche Abstraktion und da östliche Figuration – geht an der Realität vorbei. Denn auch in der DDR hat es Künstler wie Harald Metzkes oder Werner Tübke gegeben, die vom realistischen Dogma abwichen. Und andererseits haben sich expressionistische Künstler wie Picasso mit »Liegende Frau mit Blumenstrauß« (1958) wieder dem Figurativen zugewandt – aber warum eigentlich? Die Herausstellung der Ambivalenzen ist gelungen, die historische Erklärung kommt zu kurz. Insgesamt, so legt es auch der Katalog mehrmals schwammig nahe, scheinen die »Erfahrung von Krieg«, eine allgemeine »Unsicherheit« und die »Zweiteilung der Welt« die Entwicklung der Kunst nach 1945 zu erklären. Eines ist, dieser Lesart nach, jedenfalls sicher: Kunst war doch noch möglich nach dem Zweiten Weltkrieg – pardon: nach Auschwitz?

Ein diffuser Dämmerzustand, zu spüren in vielen Arbeiten der Ausstellung, könnte ebenso daher rühren, dass es nicht nur das Grauen des Zweiten Weltkriegs gab, sondern mit diesem die Shoah, den unbegreiflichen »Zivilisationsbruch«, von dem auch die Kunst in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Auch wenn im Begleittext vereinzelt vom »Holocaust« die Rede ist, wird deutlich, dass die Wirkmacht der Shoah für die Kunst nach 1945 für die kunsthistorische Expertise eher peripher zu sein scheint, obwohl die Sammlung der Nationalgalerie durchaus auch andere Arbeiten auf Lager hat.

Werner Tübke greift in seinem Gemälde »Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze (III)« (1965, nur im Katalog zu sehen) auf das Magische zurück und überschreitet den Realismus immer dort, wo er die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten verarbeitet. Was für Tübke im Osten gilt, ließe sich gleichwohl auch für die Seite der westlichen Abstrak­tion anführen, wenn man in der Zweiteilung der Kuration verbleiben will. Für einen Künstler wie Gerhard Richter (dem derzeit mit »100 Werke für Berlin« im selben Haus eine Ausstellung gewidmet ist), der – ausgebildet in der sozialistischen Wandmalerei – später im Westen zur abstrakten Formsprache fand, ist die Frage, ob Kunst nach Auschwitz überhaupt möglich sei, die conditio sine qua non seiner Kunst.

Wiedergutmachungsparade erwies sich als Farce

Gewissermaßen eine Erinnerungslücke lässt sich in der Ausstellung selbst finden: Kein Raum beherbergt ein Thema wie »Kunst und Shoah«. Stattdessen lässt sich die Sektion »Existenzielle Erfahrung« finden, die den Zeitraum von 1946 bis 1953 abdeckt. Der afrokubanische Künstler Wifredo Lam, der seine existentiellen Nöte mit Hilfe von mythologischen Figuren auf die Leinwand bringt, tritt hier besonders hervor. 1940 floh Lam vor den Nazis von Paris nach Kuba, wo er das »von den USA gestützte diktatorische Regime« und das »Großkapital« vorfand. Die Situation nach 1945 wird damit gesondert gezeichnet durch die kolonialen und postkolonialen Herausforderungen dieser Zeit – weniger durch die Shoah.

Die mystischen Bilder Lams hat Werner Haftmann erstanden, der damalige Leiter der Neuen Nationalgalerie West (1967 bis 1974). Damit muss über den Elefanten im Raum gesprochen werden: Eine Ausstellung zur Geschichte der Documenta im Deutschen Historischen Museum und die Nachforschungen des Historikers Carlo Gentile hatten 2021 Haftmanns NS-Vergangenheit als SA-Mitglied und Partisanenjäger in Italien aufgedeckt, und ihn, eine der Kultfiguren der jüngeren deutschen Kunstgeschichte, in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Haftmann hatte bewiesenermaßen dafür gesorgt, dass Arbeiten jüdischer Künstler (unter anderem die des 1944 in Auschwitz gestorbenen Rudolf Levy) nicht bei den ersten Ausgaben der Documenta gezeigt wurden.

Wichtig wäre die Beantwortung der Frage gewesen, ob Haftmann seine Arisierungsphantasien auch bei der Einkaufspolitik der Nationalgalerie hat walten lassen.

Die Wiedergutmachungsparade, als die sich die Documenta durch die Wiederbelebung der ehedem »entarteten« Kunst in Kassel inszenierte, erwies sich so als Farce. Die insgeheime Haftmann’sche Annahme, dass verfemte beziehungsweise expressionistische Kunst gleich arische Kunst sei, bildete die Leitidee seiner Kunstpolitik. So schrieb er in seinem Standardwerk »Malerei im 20. Jahrhundert«: »Die moderne Kunst wurde als jüdische Erfindung zur Zersetzung des ›nordischen Geistes‹ erklärt, ­obwohl nicht ein einziger der deutschen modernen Maler Jude war.«

Die Affäre um Haftmann konnten auch die Verantwortlichen der Dau­erausstellung nicht unerwähnt lassen: »Seine Lesart der Kunst zeigt sich in der Sammlung der Nationalgalerie«, lässt der Ausstellungstext wissen. Wichtiger als dieses pflichtschuldige Bekenntnis wäre aber die Beantwortung der Frage gewesen, ob Haftmann seine Arisierungsphantasien ebenso bei der Einkaufspolitik der Nationalgalerie hat walten lassen. Er war maßgeblich an der Aufstockung der Sammlung in den siebziger Jahren beteiligt. Die Ausstellung hätte den Anlass geben können, um im eigenen Haus nachzuforschen – doch diese Chance wurde verpasst.

Die Ausstellung »Zerreißprobe. Kunst zwischen Politik und Gesellschaft« ist noch bis zum 28. September 2025 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen.