Der britische Premierminister Rishi Sunak setzt trotz schlechter Umfrageergebnisse Wahlen an

Flucht nach vorne

Der britische Premierminister Rishi Sunak hat Parlamentswahlen im Juli angekündigt. In Umfragen liegt seine konservative Partei weit hinter der oppositionellen Labour-Partei.

Es kam überraschend. Der britische Premierminister Rishi Sunak von den Konservativen hat Neuwahlen für den 4. Juli ausgerufen, obwohl er in Umfragen weit hinter Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour-Partei liegt. Erwartet hatten die meisten Beobachter die Wahlen erst im Herbst. In Großbritannien sind die Wahltermine für das Unterhaus nicht genau festgesetzt, stattdessen gibt es lediglich eine Frist für die Auflösung des Parlaments; die hätte erst im Dezember 2024 geendet, fünf Jahre nach der jüngsten Unterhauswahl im Dezember 2019.

Dass Sunak nun doch schon am Mittwoch vergangener Woche beim König vorsprach und um die Auflösung des Parlaments bat, kommt wohl nicht zuletzt daher, dass relativ positive Daten zur Lage der britischen Ökonomie vorliegen: Die Inflationsrate beträgt nur noch 2,3 Prozent, die Wirtschaft wächst zwar nur leicht, aber stärker als angenommen und auch mehr als in Frankreich und Deutschland. Sunak hatte die Abschwächung der Inflation zu einem seiner zentralen Ziele erklärt.

Viele Wähler fragen sich, was die Konzentration auf die relativ wenigen illegal eingereisten Asyl­suchenden soll, da die legale Immigration seit dem Austritt aus der EU Rekordhöhen erreicht hat. 

Als er vor knapp zwei Jahren Premierminister wurde, folgte er der kurzen und ökonomisch katastrophalen Amtszeit von Liz Truss, die mit radikalen Steuersenkungen die Inflationsneigung der britischen Wirtschaft noch einmal verstärkt hatte. Dies wiederum machte herbe Zinssteigerungen der Zentralbank notwendig, die zu höheren Hypothekenzinsen führten. Die Konservativen, traditionell als Partei der ökonomischen Kompetenz und der Wohneigentümer angesehen, brachen in der Wählergunst ein: Truss musste zurücktreten und Sunak sprang ein mit dem Versprechen, die Dinge wieder zurechtzurücken.

Entsprechend feierte Sunak die neuen Zahlen zur Inflation in seiner Rede, in der er die Neuwahlen ankündigte: Seine Politik zeige Wirkung, sein Plan gehe auf, die Inflation sei wieder normal. Die Wähler sollten jetzt nicht den Fehler machen, dies alles wieder zu riskieren, indem sie die Labour-Partei wählten, so Sunak. Die Stimmung in Land scheint indes anders. Von dem Einbruch der Umfragewerte unter Truss haben sich die Konservativen bisher nicht erholt. Zuletzt, bei den Kommunalwahlen Anfang Mai, verloren die Konservativen mit 470 Sitzen fast die Hälfte ihrer bisherigen Mandate. In den vergangenen Monaten ist der Abstand zu Labour in Umfragen landesweit noch gewachsen, weil viele Erzkonservative mit der rechtspopulistischen Partei Reform UK liebäugeln.

Auch diese Wählergruppe wollte Sunak eigentlich bei der Stange halten. Der fast obsessiv anmutende Schwerpunkt seiner Politik auf die seit Jahren geplante Abschiebung von illegal nach Großbritannien eingereisten Asylbewerbern nach Ruanda hatte im vorigen Monat zur Verabschiedung eines neues Asylgesetzes ­geführt, nachdem der erste Versuch vom britischen Verfassungsgericht gestoppt worden war. Bisher ist noch keine einzige Abschiebung gelungen. Es war auch diesbezüglich erwartet worden, dass Sunak mit den Neuwahlen noch warten würde, bis die ersten Abschiebungen nach Ruanda vollzogen wären. Am Donnerstag vergangener Woche musste Sunak in einem Radiointerview eingestehen, dass das vor den Wahlen nicht gelingen werde.

Sunak versucht, einen klaren Kontrast zur Labour-Partei zu schaffen, die den Ruanda-Plan ablehnt. Doch damit kann er kaum diejenigen überzeugen, die Immigration im weiteren Sinne ablehnen. Viele Wähler fragen sich, was die Konzentration auf die relativ wenigen illegal eingereisten Asylsuchenden soll, wenn die legale Immigration nach Großbritannien seit dem Austritt aus der EU Rekordhöhen angenommen hat.

Doch die Zahl dieser Einwanderer zu verringern, ist wiederum ökonomisch hochproblematisch. Fachkräfte in Pflege, Gastronomie und vielen anderen Berufen sind knapp, Immigration für diese Sektoren absolut notwendig. Einige Maßnahmen zur Einschränkung der legalen Migration wurden bereits von Wirtschaftsbossen kritisiert. Gleichzeitig scheint Sunak politisch damit nichts zu gewinnen, weil Reform UK rechtsgerichtete Wähler anzieht.

Sunak hatte auch versucht, Stammwähler mit Abgabensenkungen zu den Konservativen zurückzubringen. Zweimal hatte sein Finanzminister Jeremy Hunt im vergangenen Jahr die Beiträge zur Sozialversicherung »National Insurance« um jeweils zwei Prozentpunkte gekürzt. Die Entlastungen waren vor allem für Beitragspflichtige mit mittlerem Einkommen bedeutsam. Doch auch dies hat der Regierung keinen politischen Bonus gebracht, was nicht zuletzt daran liegen mag, dass sie vor zwei Jahren die Steuerfreibeträge ein­gefroren hatte, die seitdem nicht mehr mit der Inflation erhöht werden. Dadurch hat sich die faktische Abgabenlast der meisten Briten in den vergangenen Jahren stark erhöht.

Die Staatsfinanzen sind jedoch weiter defizitär, nicht zuletzt, weil Sunak auch noch angekündigt hat, die Verteidigungsausgaben auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Zwei Prozent des BIP ist das von der Nato vorgegebene Ziel für Mitgliedstaaten, das Großbritannien bereits erfüllt. Dazu passt, dass Sunak auch wiederholt von den Gefahren sprach, denen Großbritannien durch Russland, China und den Iran ausgesetzt ist. Am Samstag kündigte er an, die allgemeine Wehrpflicht wieder einzuführen, sollte er wiedergewählt werden.

Starmer rekurriert seinerseits immer wieder auf das Chaos der konservativen Regierung, das er beenden wolle. Er richtet sich fast ausschließlich an die politische Mitte und hat angekündigt, Gelder für durchaus weithin akzeptierte Projekte left of centre wie den Green New Deal stark zu kürzen, womit Starmer Haushaltsdisziplin zu beweisen sucht. Innerparteiliche linke Konkurrenten sind fast gänzlich verschwunden, was aber wiederum dafür sorgt, dass die Partei nicht mit antisemitischen Äußerungen Negativschlagzeilen macht. Zuletzt wurde Jeremy Corbyn, Starmers Vorgänger als Parteivorsitzender, aus der Partei ausgeschlossen. Er will als unabhängiger Kandidat in seinem Londoner Wahlkreis antreten. Starmer hatte Corbyn zuvor nicht als Kandidat für Labour zugelassen, was er damit begründet hatte, dass er gegen den Antisemitismus in der Partei vorgehen wolle.

Labour kann hoffen, die meisten verlorenen Sitze in den strukturschwachen Regionen Nordenglands und im Nordosten von Wales wiederzugewinnen, wo traditionell Labour gewählt wird und die deshalb als red wall gelten, aber 2019 die Wähler:innen in Massen zu Johnsons Konservativen überliefen. Auch die klassischen Wechselwahlkreise in Mittelengland und im Südosten tendieren derzeit zu ­Labour.