In Pakistan hat eine disqualifizierte Partei die Parlamentswahl gewonnen

Weder frei noch fair

Die pakistanischen Wahlberechtigten haben dem mächtigen Militär bei der Parlamentswahl den Gehorsam verweigert und trotz dessen enormen Anstrengungen, die beliebteste Partei aus dem Rennen zu drängen, in großer Zahl die Kandidaten der PTI gewählt.

Ein Sprichwort besagt: »Pakistans Militär hat noch nie einen Krieg gewonnen und noch nie eine Wahl verloren.« Die Parlamentswahl am 8. Februar, ein halbes Jahr nach Auflösung der Nationalversammlung am 10. August, wird als bislang folgenschwerste und bizarrste in die Landesgeschichte eingehen. Begleitet wurde sie von zahlreichen Repressionsmaßnahmen gegen die islamisch-populistische Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI) des ehemaligen Premierministers Imran Khan, die von der Teilnahme ausgeschlossen war und deren ehemalige Parteimitglieder nur als unabhängige Kandidaten antreten durften.

Repressalien sind immer Zeichen schwindender Autorität, die Mao Zedong zugeschriebene Devise »Bestrafe einen, erziehe hundert« fruchtete nicht. Stimmen für den vom politisch einflussreichen Militär dämonisierten Außenseiter Khan, der im April 2022 durch ein Misstrauensvotum abgesetzt worden war und seit vergangenen August im Gefängnis sitzt, sind Stimmen gegen das Establishment. 128 Millionen Wahlberechtigte gab es, rund 48 Prozent davon beteiligten sich, zwei Millionen Stimmzettel waren ungültig.

Von den 266 in Direktwahl vergebenen Parlamentssitzen gehen 93 an unabhängige Kandidaten, die mit der PTI verbunden sind, 75 an die islamisch-konservative Pakistanische Muslimliga-Nawaz (PML-N) des vom Establishment unterstützten ehemaligen Premierministers Nawaz Sharif, 54 an die sozialdemokratische Volkspartei (PPP) und 17 an die liberale Muttahida-Qaumi-Bewegung (MQM). Die Nationalversammlung hat insgesamt 336 Sitze: 60 sind Frauen vorbehalten, zehn stehen Nichtmuslimen zu; die Sitze werden nach dem Parteienproporz des Wahlergebnisses besetzt.

Die radikalislamischen Parteien wie die Tehreek-e-Labbaik (TLP) haben landesweit bei den gleichzeitigen Wahlen zu den Provinzparlamenten deutlich verloren. Rund zwei Drittel der Pakis­tane­r:innen hatten sich in einer Umfrage der pakistanischen Tageszeitung Dawn im Januar die zusätzliche Option »keine der genannten Personen« auf dem Wahlzettel gewünscht. Die wirtschaftliche Entwicklung und die Angst vor Armut waren die bestimmenden Themen im Wahlkampf.

Die PML-N der einflussreichen Familie Sharif und die PPP der Bhutto-Dynastie (aus der die 2007 ermordete Premierministerin Benazir Bhutto stammte) verzichteten auf scharfe rhetorische Attacken auf ihren politischen Gegner, da Khan in Haft ist und die PTI infolge einer Zensurverordnung in den großen Medien ignoriert wurde. Journalisten durften nur über Khans juristische Verfahren berichten und ihm keine Gelegenheit zu politischen Aussagen geben. Das Vertrauen der Bevölkerung auf faire Wahlen ist in dieser offensichtlichen Demokratiesimulation auf einem Allzeittief. Weil die Vorwürfe von Wahlfälschungen so zahlreich waren, hielten die Parteien diesmal auch keine der üblichen Siegesfeiern in gewonnenen Wahlbezirken ab.

Am Tag vor der Wahl töteten Terroristen des »Islamischen Staats« bei zwei Anschlägen auf Wahlkampfbüros in Belutschistan 30 Menschen. Insgesamt gab es mehr als 50 Terroranschläge – für pakistanische Verhältnisse beinahe eine friedliche Wahl. Zur Sicherheit wurden am Wahltag Internet und Handynetz abgeschaltet. Der Premierminister der amtierenden Übergangsregierung, Anwaar-ul-Haq Kakar, räumte ein, dass er keine freien und fairen Wahlen garantieren könne, dies aber ohnehin »sehr relative und subjektive Begriffe« seien.

Für Khan gab es innerhalb einer Woche kurz vor der Wahl zur ursprünglichen Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis bei drei weiteren Verurteilungen zusätzlich mehr als 30 Jahre Haftstrafe wegen Geheimnisverrats, Korruption und wegen Unzucht, da seine Frau Bushra Bibi keine drei Menstruationszyklen zwischen Scheidung und der Heirat mit Khan abwartete, wie es die Sharia vorsieht. Bis zum letzten Tag führten Polizeikräfte Razzien in PTI-Wahlbüros und Wohnungen der Parteikandidaten durch.

Ein schwacher Premierminister ist gut für das Establishment, das sich auf die Armee stützt, gleichzeitig sollten die Figuren ausreichend stark scheinen, um so tun zu können, als gäbe es Demokratie in Pakistan.

Das Verfassungsgericht bestätigte im Januar die Entscheidung der Wahlkommission, der PTI die Nutzung des Cricketschlägers – Khan war einst erfolgreicher Cricketspieler – als ihr Symbol auf den Wahlzetteln zu untersagen, nachdem sie keine parteiinternen Wahlen für die Vergabe der Listenplätze nachweisen konnte. Analysten bezeichnen das Urteil als dreiste Wahlbeeinflussung, da ohne die altbekannten Bildsymbole einige Wähler Schwierigkeiten hätten, ihren Wunschkandidaten zu identifizieren, wenn die PTI-Kandidaten auf Provinz- und Bundesebene mit unterschiedlichen Symbolen markiert sind. Funktionaler Analphabetismus ist in ländlichen Regionen nicht unüblich.

Die Urteile gegen die Opposition werfen Fragen zur Neutralität und Unabhängigkeit der Justiz auf sowie zum Verhalten der demokratischen Institutionen, wie des Amts des Premierministers, der Wahlkommission, der Exekutive, der Medien. Die PTI wird rigoros benachteiligt: Parteiführer sind inhaftiert, einige Hundert Nominierungsunterlagen ihrer Kandidaten wurden abgelehnt, Online-Spendenaktionen mit Internetabschaltungen behindert – während sich die juristischen Probleme von Nawaz Sharif, dem Kandidaten der PML-N, in Luft auflösten. Der 74jährige war im April 2018 vom Verfassungsgericht mit einem lebenslangen Verbot, politische Ämter auszuüben, belegt worden. Am 8. Januar urteilte das Verfassungsgericht rechtzeitig zur Wahl, dass solche Sperren wegen Korruption ungültig sind.

Es gilt als sicher, dass Sharif trotz miserabler Beliebtheitswerte Premierminister werden wird. Ohne eigene Mehrheit im Parlament braucht er entweder eine Allparteienkoalition gegen Khan oder einige unabhängige PTI-Kandidaten als Unterstützer. Am Montag stürmte der PTI zufolge die Polizei im Punjab die Häuser mehrerer ihrer Kandidaten, um sie zu zwingen, zur PML-N überzulaufen. PML-N und PPP haben bereits ihre Zusammenarbeit vereinbart, um Pakistan vor »Instabilität« zu bewahren, trotz tagelanger Proteste von PTI-Anhängern gegen angebliche Manipulation bei den Wahlen.

Ein schwacher Premierminister ist gut für das Establishment, das sich auf die Armee stützt, gleichzeitig sollten die Figuren ausreichend stark scheinen, um so tun zu können, als gäbe es eine Demokratie. Ob das gelingen kann, hängt davon ab, wie das Establishment mit dem Wahlergebnis umgeht. Die meisten Wähler wünschen sich offenbar keine Regierung einer Familiendynastie, sondern dass Vertreter aus unterschiedlichen Parteien konstruktiv zusammenarbeiten.

Die nächsten Tagen werden zeigen, welche Rechte die unabhängigen ehemaligen PTI-Kandidaten als Gruppe im Parlament beanspruchen können und welcher der Parteien sie sich anschließen möchten. Gesichert ist bereits, dass sie keinen der 70 quotierten Parlamentssitze besetzen dürfen. Ob sich die PTI-Kandidaten überhaupt als Gruppe organisieren dürfen, muss das Verfassungsgericht entscheiden, das ja schon in der Vergangenheit für Überraschungen gut war.

Da die Verfassung keine unabhängigen Parlamentarier vorsieht, schlägt eine eingereichte Klage vor, dass alle unabhängigen Kandidaten binnen drei Tagen einer anderen Partei beitreten müssen oder ihren Parlamentssitz verlieren. Bis jetzt redet man aber nur darüber, wer sich welcher Fraktion anschließen könnte – die PTI selbst bevorzugt die Oppositionsrolle. Bis zum 29. Februar müssen die rund 150 administrativen Posten in Parlament und Kabinett verteilt sein. Am 1. März folgt die Abstimmung über den Premierminister.

Das Dilemma aber bleibt: Die Partei, die nicht zur Wahl antreten durfte, hat die Wahl gewonnen – die zugrundeliegende Entfremdung zwischen Bevöl­kerung und Establishment und die wachsende Polarisierung in der Gesellschaft lassen sich nicht durch weitere Repressionsmaßnahmen wegprügeln und Pressezensur totschweigen.