Zwei ehemalige pakistanische Premierminister betreiben Wahlkampf unter ungleichen Bedingungen

Justiz mit zweierlei Maß

In Pakistan gibt es Aufregung wegen zweier ehemaliger Premierminister: Während Imran Khan in einem neuen Prozess die Todesstrafe droht, wird Nawaz Sharif bei der Rückkehr aus seinem Exil mit Jubel empfangen.

Hyderabad. Nawaz Sharif, der Mann, der bereits dreimal pakistanischer Premierminister war, aber jedes Mal abgesetzt wurde, ohne seine Amtszeit zu beenden, war bei seiner Heimkehr aus dem Exil nach Pakistan sichtlich bewegt. 1993 war er durch ein Präsidialdekret seines Amts enthoben und 1999 durch einen Militärputsch gestürzt worden. 2017 wurde er durch ein Gerichtsurteil vom Amt ausgeschlossen. Seit 2019 lebte Sharif, der aus einer der beiden einflussreichsten Familien Pakistans stammt und dem im Heimatland eine Verhaftung drohte, in London. Am 21. Oktober haben ihn Abertausende Anhänger seiner Partei, der islamisch-konservativen Pakistanischen Muslimliga (Nawaz), abgekürzt PML-N, in Lahore nach seiner Landung mit Jubel empfangen.

Dass Sharif, der eigentlich den Rest einer zehnjährigen Haftstrafe wegen Korruption zu verbüßen hätte, aber gegen Kaution auf freiem Fuß bleibt, ungehindert die Massenkundgebung zu seiner Begrüßung abhalten konnte, ist ein Politikum. Denn nahezu gleichzeitig wurde auch ein Gerichtsprozess gegen einen anderen ehemaligen Premierminister anberaumt, den von 2018 bis 2022 regierenden Imran Khan von der islamisch-populistischen Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI), der als populärster Politiker des Landes gilt. Es geht dabei um eine von mehreren Dutzend Anklagen und die bisher für ihn am schwersten wiegende: Kahn wird die Weitergabe von Staatsgeheimnissen vorgeworfen, deshalb drohen ihm 14 Jahre Gefängnis oder sogar die Todesstrafe. Bereits seit Wochen befindet er sich im Hochsicherheitsgefängnis in Untersuchungshaft. Khan teilte er aus seiner Zelle heraus mit, dass er um sein Leben fürchte.

Gegen Khan und andere führende PTI-Politiker sei seit Monaten eine ­regelrechte Hexenjagd im Gange – so stufen es seine große Anhängerschaft und auch manche unabhängige Beobachter ein. Khan war im April 2022 als erster Premierminister in der Landesgeschichte durch ein Misstrauensvotum gestürzt worden. Er selbst sprach damals von einer Intrige und einer ausländischen Verschwörung. In die sollen der PTI zufolge nicht nur der »tiefe Staat«, also führende Kräfte in Armee und Geheimdiensten, sondern auch die USA verwickelt gewesen sein, was diese freilich bestreiten.

Als Beleg dient Khan eine geheime Depesche, die im März 2022 aus der pakistanischen Botschaft in Washington, D.C., verschickt wurde und in der es angeblich um die Verstimmung in den USA ging, die Khans aggressiv vorgebrachte Weigerung ausgelöst hatte, zur russischen Invasion der Ukraine Stellung zu beziehen. Im Prozess wird Khan nun zum Vorwurf gemacht, diese Depesche veröffentlicht und »für eigene politische Zwecke« missbraucht zu haben, indem er eine Verschwörungsgeschichte konstruiert habe. Die Staatsanwaltschaft argumentiert, nicht der Premierminister, sondern einzig der Präsident habe das Recht, solche Inhalte bekannt zu machen. Den noch aus der Kolonialzeit stammenden Paragraphen von 1923 über Amtsgeheimnisse, auf dessen Grundlage Khan angeklagt ist, interpretieren der Angeklagte und seine Strafverteidiger anders und sehen keine Verfehlung.

Khan wurde im April 2022 durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Er selbst sprach von einer Intrige und einer ausländischen Verschwörung.

Auffallend ist die Ungleichbehandlung der zwei ehemaligen Premierminister. Der bereits verurteilte Nawaz Sharif musste bei seiner Heimkehr zwar zunächst in der Hauptstadt Islamabad zwischenlanden, um dort Dokumente zu unterzeichnen und die Kaution zu zahlen. Danach aber durfte er seinen Weg nach Lahore fortsetzen, wo er ehrenvoll empfangen wurde. Nicht einmal jene Behörden, die 2017 in einem Korruptionsfall seine Schuld als erwiesen angesehen hatten, wie die Antikorruptionsbehörde National Accountability Bureau (NAB), hatten jetzt etwas dagegen einzuwenden, dass er zumindest vorläufig auf freiem Fuß bleibt, wie auch pakistanische Kolumnisten verwundert anmerkten.

Sharifs Name war im Jahr zuvor in den Panama Papers aufgetaucht, die internationale Steuervergehen offenlegten; die Affäre führte dazu, dass der Obersten Gerichtshof Sharif im Frühjahr 2017 absetzte. Es ging vor allem um lukrativen Immobilienbesitz in der Londoner Innenstadt, dessen Erwerb Sharif vor Gericht mit Rekurs auf seine Einkommensverhältnisse nicht stichhaltig ­erklären konnte. Mit ihm wurde auch seine Tochter Maryam Sharif verurteilt, da sie geholfen habe, die Angelegenheit zu verschleiern. Nach den ersten Monaten in Haft durfte Sharif zur medizinischen Behandlung nach London ausreisen. Aus dem genehmigten Abstecher wurde ein mehrjähriges Exil – seiner Darstellung zufolge habe sich seine Behandlung durch die Covid-19-Pandemie sehr verzögert.

Inzwischen hat Sharif beantragt, dass über seinen Schuldspruch und die Haftstrafe erneut verhandelt werden soll. Nicht nur die PTI sieht bei der sich anbahnenden Rehabilitierung Sharifs das Netzwerk aus Armee und ­führenden Geheimdienstkreisen am Werk. Mit diesem stand Sharif zwar in der Vergangenheit auch bisweilen auf Kriegsfuß, wie der Putsch des damaligen Generalstabschefs der Armee, Pervez Musharraf, 1999 illustriert. Momentan allerdings scheint der faktische Anführer der PML-N – offiziell ist sein jüngerer Bruder Shehbaz Sharif Vorsitzender – wieder der Kandidat des Establishments zu sein und gute Chancen auf eine erneute Wahl zum Premierminister zu haben.

Shehbaz Sharif war zunächst der Nachfolger Khans im Premierministeramt. Da jedoch die Legislaturperiode des Parlaments im August ablief, führt seitdem eine Übergangsregierung das Land; spätestens im Februar 2024 sollen Parlamentswahlen stattfinden. Shehbaz hatte einer Koalition unter anderem mit der sozialdemokratischen Volkspartei (PPP) vorgestanden. Diese warnte bereits davor, Khans PTI mit manipulierten Vorwürfen von den anstehenden Wahlen auszuschließen.

Da die Armee ein hartes Vorgehen gegen die PTI unterstützte, kam es zur Verhaftung Hunderter politischer Aktivisten, denen vorgeworfen wird, im Mai nach der Absetzung Khans während heftiger Proteste gegen die Regierung Armeeeinrichtungen gestürmt zu haben. Khan weist die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen zurück und behauptet, das Militär wolle ihn bestrafen und seine Partei zerschlagen, um ihn an der Rückkehr an die Macht zu hindern. Seit der Unabhängigkeit Pakistans von Großbritannien im Jahr 1947 hat das Militär wiederholt gegen gewählte Premierminister geputscht und das Land insgesamt mehr als drei Jahrzehnte lang regiert; es beeinflusst die Politik Pakistans immer noch maßgeblich.