Blasphemievorwürfe und Übergriffe gegen die christliche Minderheit in Pakistan

Beleidigte Prophetendiener

Bei Ausschreitungen im Osten Pakistans hat ein Mob aus frommen Muslimen Kirchen und Wohnhäuser von Christen verwüstet. Angestachelt wurde er von der islamistischen Partei TLP.

Zur Verteidigung der Ehre des Propheten Mohammed erklimmen Horden beleidigter frommer Muslime im christlichen Viertel der pakistanischen Kleinstadt Jaranwala mehrere Kirchen, zerschlagen Kreuze, zertrümmern Ziegelsteine und fackeln alles ab, was brennt. Nachdem in Moscheen am Mittwoch vergangener Woche beim Morgengebet über Lautsprecher das Gerücht verbreitet wurde, ein Christ habe Seiten aus einem Koran herausgerissen, trifft die Zerstörungswut des Mobs alsbald Wohnhäuser von Christen. Videos in sozialen Medien zeigen Polizisten, die das Geschehen interessiert beobachten.

Die Menge aus über 1.000 Muslimen peitscht sich mit Parolen der islamistischen Partei Tehreek-e-Labbaik Pakistan (TLP) hoch; diese hängt der Barelvi-Bewegung an, welche einen orthodox-sunnitischen Fundamentalismus mit sufistischen Praktiken verbindet (Jungle World 41/2020). »Ich bin hier! Oh Gesandter Gottes, ich bin hier, dir zu deinen Diensten!« ertönt es immer wieder. Barelvis glauben, dass der Prophet persönlich anwesend sei, wenn sich eine Gruppe Gläubiger in seinem Namen versammelt. Die beiden Rädelsführer der Ausschreitungen sind bekannte Barelvi-Aktivisten, einer aus der TLP und ein Kleriker ihres Moscheeverbands. Die aufgebrachte Menge fordert die Herausgabe des Christen Raja, der Koranseiten entwürdigt haben soll, und seines Bruders; die TLP fordert die öffentliche Hinrichtung des mutmaßlichen Blasphemikers durch den Strang.

Am späten Abend treffen paramilitärische Einheiten ein, die die eifernden Muslime zurückdrängen. Der Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre werden verhängt. Die Bilanz wird am Sonntag klar: 19 Kirchen und 86 Wohnhäuser wurden geplündert und teilweise niedergebrannt, der christliche Friedhof geschändet. Die Polizei teilte mit, sie habe bis Montag 160 Randalierer festgenommen. Ein Zeltlager zur Unterbringung der Vertriebenen wird aufgebaut. Videos zeigen Gruppen christlicher Mädchen, die sich die ganze Nacht auf Feldern versteckten. Die meisten Christen sind aus ihren Häusern geflohen und trauen sich erst am Sonntag in ihre Wohnviertel zurück. Aber auch der beschuldigte Christ Raja und sein Bruder wurden gefasst und inhaftiert, die Polizei hat ein Verfahren gegen sie wegen Verstoßes gegen jenes Blasphemie-Gesetz eingeleitet, das die Beleidigung des Koran zum Gegenstand hat.

Da die Vorfahren der Christen im Punjab meist kastenlose Konvertiten waren, halten Muslime, die sich an Praktiken des hinduistischen Kastensystems orientieren, sie noch heute für unberührbar.

Blasphemie ist im mehrheitlich muslimischen Pakistan ein heikles Thema und kann im Falle, dass der Prophet beleidigt worden sein sollte, mit der Todesstrafe geahndet werden. Der bloße Vorwurf der Gotteslästerung kann zu Angriffen extremistischer muslimischer Selbstjustizgruppen auch auf Nachbarn, Freunde und Verwandte der Beschuldigten führen. Am vergangenen Sonntag sprühten Unbekannte Lobpreisungen für den Propheten Mohammed an die Außenwand der Central Brooks Memorial Church in Karachi – falls Christen die Aufschriften entfernen sollten, gälte das als Blasphemie.

Über 80 Prozent der etwa 2,5 Millionen pakistanischen Christen leben in der Provinz Punjab. Die offiziellen Zahlen zu religiösen Minderheiten in ­Pakistan sind umstritten, da viele Angehörige von Minderheiten aufgrund von Verfolgung und Diskriminierung ihren Glauben verbergen. Das pakistanische Christentum hat sich insbesondere im ländlichen Raum in seiner Praxis stark an den Islam angepasst: Gläubige bleiben nach Geschlechtern getrennt, in kleineren Kirchen ziehen Christen ihre Schuhe aus und sitzen auf dem Boden. Eine Mehrheit glaubt, ihnen sei während der christlichen Fastenzeit wie den Muslimen im Ramadan das vollständige Fasten über den gesamten Tag vorgeschrieben.

Da die Vorfahren der Christen im Punjab einst überwiegend kastenlose Konvertiten waren, sehen Muslime sie noch heute als unberührbar an. In der Provinz haben sich einige der sozialen Praktiken des hinduistischen Kastensystems erhalten. Die Christen in Jaranwala sind fast ausnahmslos Sanitärarbeiter, Müllmänner, Kanalreiniger oder Straßenkehrer. ­Lokale Restaurants verweigern ihnen den Zutritt oder führen eigenes Geschirr und Besteck für Nichtmuslime. Auf dem bei den jüngsten Ausschreitungen verwüsteten Friedhof gab es nicht einmal Grabsteine.

Der Vorwurf der Gotteslästerung kann auch Muslime treffen, doch Pakistans Christen leiden überproportional unter dem Blasphemiegesetz. John ­Joseph, der 1981 der erste pakistanischstämmige Bischof des Landes wurde, setzte sich für mehrere christliche Angeklagte vor Gericht ein. Am 6. Mai 1998, wenige Tage nach einem weiteren Todesurteil gegen einen unschuldigen christlichen Analphabeten, schoss sich der Bischof aus Protest gegen das Blasphemiegesetz am Eingang des Gerichts in Sahiwal mit einem Revolver in den Kopf – was den Vatikan in Verlegenheit brachte, da Suizid eigentlich eine Todsünde darstellt.

Das pakistanische Blasphemiegesetz geht auf die britische Kolonialgesetzgebung des 19. Jahrhunderts zurück, doch in den achtziger Jahren wurden härtere Strafen eingeführt, darunter die Todesstrafe für die Beleidigung des Islam, insbesondere des Propheten. Die religiös motivierte Gewalt hat seitdem zu­genommen. Eine Woche vor den Übergriffen in Jaranwala wurde der 22jährige Englischlehrer Abdul Rauf im belutschischen Turbat von Unbekannten erschossen, als er auf dem Weg zu einer Jirga war, einer Versammlung zur Beilegung von Streitigkeiten, bei der er Blasphemievorwürfe gegen ihn ausräumen wollte.

Die englischsprachige pakistanische Tageszeitung Dawn berichtete im vergangenen Jahr, dass seit der Unabhängigkeit Pakistans mindestens 89 Bürger wegen Blasphemievorwürfen getötet worden seien, mehr als 1.400 Anschuldigungen erhoben wurden. Der Oberste Gerichtshof von Islamabad hat demnach bereits der Legislative eine Gesetzesänderung vorgeschlagen, um diejenigen zu bestrafen, die falsche Blasphemievorwürfe erheben. Am Montag teilte die Regierung mit, dass jeder vom Mob zerstörte Haushalt in Jaranwala 2 Millionen Rupien (6.200 Euro) zur Entschädigung erhalten soll.

Politik und Gesellschaft versagen in Pakistan häufig beim Vorgehen gegen islamistisch motivierte Gewaltexzesse. Pakistanische Kommentatoren verwiesen jüngst auch auf die wiederholten Koranverbrennungen durch einen Iraker seit Juni in Stockholm. Am 19. August, nachdem im niederländischen Den Haag der Leiter der dortigen Pegida-Bewegung, Edwin Wagensveld, vor der türkischen Botschaft auf einen Koran trat, folgte eine Mitteilung des pakistanischen Außenministeriums: Die Niederlande mögen solche »hasserfüllten und islamfeindlichen Handlungen« künftig besser unterbinden, um das friedliche Zusammenleben zwischen den Religionen nicht zu gefährden.

Seit 2014 gewährt die EU Pakistan besondere Zollpräferenzen im Gegenzug für die Einhaltung von Menschenrechten, zu denen die Religionsfreiheit gehört. Die bevorzugte Zollbehandlung endet turnusgemäß im Dezember dieses Jahres. Erst im Juli 2023 empfahl die EU eine Verlängerung der Vergünstigungen für Pakistan um weitere vier Jahre. Auch die wehrtechnische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Pakistan bleibt robust. Pakistan verdankt insbesondere der Bundesrepublik, dass es zur Atommacht werden konnte.