Rücksichtsloses Verhalten wird ­gerne mit revolutionärem Impetus gerechtfertigt

Verteidigung der Lüge

Ein Generationenbruch geht oftmals mit dem Kampf gegen alther­gebrachte Gepflogenheiten einher. Grundsätze eines respektvollen und freundlichen Umgangs miteinander im Namen revolutionärer Umbrüche zu verwerfen, ist hingegen wenig progressiv.

»Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist« – ein markiges, aber keineswegs antideutsch intendiertes Zitat, ganz im Gegenteil. Es stammt aus Johann Wolfgang Goethes Alterswerk, dem größtenteils zwischen 1825 und seinem Todesjahr 1832 geschriebenen zweiten Teil von »Faust«, und soll nicht etwa das Deutsche oder die Deutschen verspotten, sondern vielmehr Höflichkeit für undeutsch erklären.

Der so denkt, ist ein Bakkalaureus (heute: Bachelor), und gerichtet ist der Satz an Mephistopheles, den er für seinen alten Lehrer Faust hält. Der greise Idealist Goethe skizziert in diesem Bakkalaureus den burschenschaftlichen Jungakademikertypus jener Jahre, dessen revolutionärer Impetus der Traum vom deutschen Nationalstaat ist und der schon 1817 auf dem Wartburgfest in einer zwar eher symbolischen, aber dennoch zünftigen Bücherverbrennung Werke wie Saul Aschers »Die Germanomanie« mit drohenden Worten den Flammen übergab: »Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Juden­thum und wollen über unser Volksthum und Deutschthum spotten und schmähen!«

Noch verhasster als die Juden ist den Volks- und Deutschtümelnden allerdings alles Französische, und Höflichkeit (hier schließt sich der Kreis) wird mit Frankreich assoziiert. Zugleich ist es die Wortherkunft vom »Höfischen«, die die jungen Leute dagegen einnimmt. Schließlich sind sie nicht nur Nationalisten, sondern auch Republikaner und als solche einer zwar nicht neuen, aber als neu empfundenen Idee verpflichtet, die so groß und edel ist, dass für freundlichen Umgang mit ihren nun als blind erkannten Lehrern nicht nur kein Raum bleibt, sondern derlei tradierte Verhaltensweisen selbst zum Teil des Problems erklärt werden.

Die Feministinnen der siebziger Jahre hatten selbstverständlich recht, die Konvention, dass Männer Frauen die Tür aufhalten sollen, als sexistisch und paternalistisch zu brandmarken. Skurril erscheint jedoch, dass dieses Thema noch heute in Internetforen heiß debattiert wird.

Unabhängig von konkreten politischen Zielvorstellungen ist diese auch formale Abkehr vom Althergebrachten ein wiederkehrendes Muster generationeller Konflikte. Man findet sie bei den Lebensreformern und angehenden Revolutionären in der Spätphase des deutschen Kaiserreichs ebenso wie bei jungen Anarchisten und Kommunisten der zwanziger Jahre, den aufstrebenden Nationalsozialisten oder den revoltierenden Studenten von 1968.

Der Bruch mit der politischen Ideenwelt der Vorgeborenen geht anscheinend geradezu zwangsläufig auch mit der Ablehnung dessen einher, was diese für »gutes Benehmen« erachten. Nur dass das Höfische am Höflichen im 20. Jahrhundert an Relevanz verlor und der als einengend empfundene Verhaltenskodex fortan als ein bürgerlicher identifiziert wurde. Der Effekt ­allerdings war stets derselbe, wie Theodor W. Adorno in seinen »Minima ­Moralia« ausführt: »Der Höfliche läuft Gefahr, für den Unhöflichen zu gelten, weil er von der Höflichkeit wie von ­einem überholten Vorrecht noch Gebrauch macht.«

Bemerkenswert an diesem wiederkehrenden Prozess ist zum einen, dass sich der Furor der jeweils neuen Generation hier an Regeln abarbeitet, die keinen Gesetzesrang und somit auch keine direkte Repressionsmacht haben. Zum anderen, dass dabei nicht zwischen teils wirklich grotesken Etiketteregularien für Kleidung oder Tischsitten (oft fälschlicherweise dem Aufklärer Adolph Knigge zugeschrieben) und banalen Umgangsformen unterschieden wird, in welchen Höflichkeit sich letztlich als bloßes Synonym von Freundlichkeit und gegenseitigem Respekt offenbart: die Nachbarn grüßen, sich nicht vordrängeln, niemandem ins Gesicht husten und so weiter.

Wobei manchmal die Grenzen verschwimmen können. So hatten die Feministinnen der siebziger Jahre selbstverständlich recht, die Konvention, dass Männer Frauen die Tür aufhalten sollen, als sexistisch und paternalistisch zu brandmarken. Skurril erscheint jedoch, dass dieses Thema noch heute in Internetforen heiß debattiert wird, ­obwohl doch freundliches Türaufhalten längst nicht mehr an geschlechtliche Rollenzuschreibungen gekoppelt ist und die einzig denkbare Alternative dazu die Welt mit Sicherheit nicht zu einem besseren Ort machen würde.

Ginge es hier bloß darum, seinen Mitmenschen achtsamer zu begegnen, könnte man »awareness« als bloße Neuinterpretation von Höflichkeit und Taktgefühl begreifen.

In den meisten Fällen ist es allerdings weitgehend ungefährlich, wenn sich die Vorstellung von höflichem Umgang miteinander verändert. Ob man sich nun zu Begrüßung und Verabschiedung eher die Hand gibt oder selbst flüchtige Bekanntschaften gleich umarmt, ist letztlich gleichgültig, weil beide Gesten im Kern dasselbe aussagen – auch wenn mancher beklagen mag, dass die einstmals für den freundschaftlichen Umgang reservierte Umarmung durch ihre inflationäre Anwendung im bloß freundlichen (also höflichen) Kontext an Bedeutung verloren hat.

Problematisch wird die Transformation von Umgangsformen erst dann, wenn in ihr der aus dem Universalismus der Aufklärung erwachsene Grundsatz verlorengeht, dass alle Menschen gleich seien und somit auch denselben Respekt verdienen. Wenn beispielsweise aus der Ablehnung überkommener Umgangsformen ein neues, noch beengenderes Regularium geschaffen wird, dem zumindest innerhalb bestimmter Kreise ein obligatorischer Charakter verliehen wird, der ent­sprechend exekutiert werden muss.

Hierfür gibt es aus jüngerer Zeit zahlreiche Beispiele, die der an den Univer­sitäten schon länger vorherrschenden Identitätspolitik zuzuordnen sind. Die oftmals erkenntnisreiche analytische Dekonstruktion überkommener Theorien, Kategorien und Begrifflichkeiten wird dabei ideologisch überformt, um Handlungsmuster für einen besseren und gerechteren Umgang der Menschen miteinander zu generieren. Das Ergebnis ist die unbedingte Forderung nach »political correctness« in Wort und Tat, der etwas seltsam Protestantisches anhaftet, nämlich in dem Sinne, dass der Mensch im Diesseits allzeit gut zu sein habe, weil es ja keinen Sünden­erlass durch Beichte gibt.

Das wäre weniger problematisch, wenn es denn bei Umgangsformen unter Gleichgesinnten bliebe. Selbst so bizarr der ursprünglichen Intention entgegenlaufende Ansätze wie die manisch immer weiter ausdifferenzierte Kategorisierung von Menschen nach Phänotyp, Geschlechtlichkeit oder Diskriminierungserfahrung und die damit einhergehende Zuteilung von unterschiedlichen Ansprüchen auf Rücksichtnahme oder Rederecht ließen sich freundlich be­lächeln, blieben sie gruppenintern. Als der alte Goethe noch ein junger Stürmer und Dränger war, sollen er und seine Kollegen sich untereinander gern mit einem deftigen »Kerl!« begrüßt haben, weil »ein ­ganzer Kerl« zu sein ihrem chauvinistischen Selbst­bild entsprach. Zweifellos aber hätten sie Außenstehende nie so angesprochen.

Schwierig wird es, wenn spezielle Umgangsformen auf ideologischer Basis zu einem Normenkatalog gefügt werden, der anstrebt für alle verbindlich zu sein. Darin ist die Durchsetzung mit repressiven Mitteln bereits intendiert. So könnte man »awareness«, ginge es hier bloß darum, seinen Mitmenschen achtsamer zu begegnen, als bloße Neuinterpretation von Höflichkeit und Taktgefühl begreifen.

Doch die individuelle Auslegbarkeit, die diesen alten Begrifflich­keiten heutzutage innewohnt, wird aufgehoben, wenn man »Awareness-Teams« bildet, die über eventuelle Verstöße wachen sollen und unter dem Stichwort »Mikroaggressionen« selbst »Blicke, Gesten, Körperhaltung« für objektiv interpretierbar erklärt, wie es im Awareness-Konzept von »Ende ­Gelände« zu lesen ist. Denn, wenn ein Blick bereits ein »Angriff« sein und »Verletzungen« auslösen kann und sich das beauftragte Team zudem dogmatisch der (zumindest möglicherweise auch neurotisch begründeten) Per­spek­tive des »Opfers«, verpflichtet fühlt, sich aber dennoch »Täteransprache« anmaßt, ist kein sinnvoller Austausch über wünschenswerte Umgangsformen mehr möglich. Eine Verteidigung (»Ich hab nur böse geguckt, weil du mich vorhin angerempelt hast.«) ist bei dieser Herangehensweise ja ausgeschlossen. »Takt ist eine Differenzbestimmung«, schreibt Adorno. »Er besteht in wissenden Abweichungen.«

Das Potential zu einem Sozialkreditsystem nach chinesischem Vorbild ist der mit unerschütterlicher Selbstgewissheit gepaarten Lust am Kate­gorisieren, Kontrollieren und Regulieren zweifellos inhärent.

So ärgerlich nun aber die sicher gut gemeinten, aber in ihrer oft kontraproduktiven Konsequenz nie zu Ende gedachten identitätspolitischen Ansätze für vorgeblich sensiblere Umgangsformen zuweilen auch sein mögen und so virulent sie sich zuletzt insbesondere im Bereich der Sprache zeigten – das spezifische akademische ­Milieu ist bisher glücklicherweise nicht in der Lage, seine Theorien in größerem Rahmen repressiv durchzusetzen.

Ein Sozialkreditsystem nach chinesischem Vorbild, bei dem »korrektes« Verhalten mit Punkten belohnt beziehungsweise inkorrektes durch Punktentzug bestraft wird und das Gesamt-Rating schließlich über Chancen auf dem Arbeitsmarkt oder Kreditwürdigkeit entscheidet, steht also erst mal nicht zu befürchten.

Das Potential hierzu ist der mit unerschütterlicher Selbstgewissheit gepaarten Lust am Kate­gorisieren, Kontrollieren und Regulieren indes zweifellos inhärent, und ­zuweilen zeigt das identitätspolitische Lager durchaus Bereitschaft, seine ­Irrungen und Wirrungen nicht nur mittels (ziemlich unhöflicher) ideologischer Ignoranz gegen kritische Argumente zu verteidigen, sondern auch mal in aggressiverer Form vorzubringen, wie derzeit beispielsweise den ­israelbezogenen Antisemitismus postkolonialer Theorien.

Als Goethes zu absoluter Wahrheit strebender Bakkalaureus dem als Faust getarnten Mephistopheles zum ersten Mal begegnet, schreibt dieser dem angehenden Weltveränderer ins Stammbuch: »Eritis sicut Deus scientes bonum et malum.« (Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.) Dies ist der Satz, den im Ersten Buch Mose die Schlange zu Eva spricht. Der weitere Verlauf ist bekannt. Dann doch lieber lügen.