Tina ­Soliman, Buchautorin, im Gespräch über die Unsitte des »Ghosting«

»Niemand verabschiedet sich von Marmelade«

Früher galt es als unerhört, sich wortlos aus einer zuvor freundschaftlichen, vielleicht sogar romantischen Beziehung zu verabschieden. Das scheint lange her. »Ghosting« ist weit mehr als eine Form extremer Unhöflichkeit, im schlimmsten Fall kann der plötzliche Kontakt­ab­bruch psychische Schäden anrichten. Die Journalistin Tina Soliman hat sich intensiv mit dem Thema beschäftigt.
Interview Von

Wer sich für das Thema Liebesbeziehungen aus soziologischer Per­spektive interessiert, stößt schnell an Grenzen. Auskunft erhält man höchstens aus Heirats- und Scheidungsstatistiken, alles darüber ­hinaus wird kaum ermittelt. In Ihrem 2019 erschienenen Buch beschäftigen Sie sich mit »Ghosting«, dem abrupten Kontaktabbruch bei einer zuvor bestehenden Liebesbeziehung. Wie sind Sie vorgegangen, um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen?
Ich hatte den Vorteil, dass ich schon Jahre zuvor zwei Bücher zum Thema »Funkstille« im Klett-Cotta-Verlag veröffentlicht habe. Das Schöne an Büchern ist, dass sich danach viele melden, auch sehr viele Jüngere. Die berichteten davon, dass sie in Paarbeziehungen oder in der Kennenlernphase wortlos verlassen wurden. Und auch Abbrecher trauten sich, über ihre Beweggründe zu sprechen. Außerdem habe ich mit Paartherapeuten, Psychologen, Psychiatern und Analytikern Interviews geführt, oft auch mehrfach. Meine Recherchen und Gespräche liefen über einen Zeitraum von rund zehn Jahren. Und »Ghosting« unterscheidet sich von der Datenlage bei der »Funkstille« auch dadurch, dass es öfter online, zum Beispiel über Tinder, erfolgt und dadurch Daten hinterlässt.

»Ghosting« ist ein recht neuer Begriff, das englischsprachige Wörterbuch »Collins« führt ihn erst seit 2015. In den Medien und in der Ju­gendsprache ist er aber schon sehr geläufig und wird auch spielerisch genutzt. Wie ist Ihr Eindruck: ­Haben wir es mit einer Modeerscheinung zu tun oder ist der plötzliche Kontakt­abbruch etwas, das bleiben wird?
Der plötzliche Kontaktabbruch bleibt, denn er ist längst salonfähig geworden – alltäglich. Bei einer App wie Tinder ist es quasi ein regulärer Vorgang. Und tatsächlich wird der Begriff bereits auch für das Verschwinden in Freundschaften, in der Arbeitswelt, aber auch etwa bei Therapeuten verwendet, die mir berichteten, dass Klienten sie »ge­ghostet« haben. Ghosting ist bequem und zeitsparend. Es ist aber vor allem eine Konfliktvermeidungstaktik. Immer weniger Menschen, vor allem jüngere, wollen sich noch rechtfertigen müssen. Sie vermeiden damit unschöne Konfrontationen und die Möglichkeit, kritisiert zu werden. Irgendwann sind sie nicht mehr in der Lage, mit Konflikten souverän umzugehen, weil sie darin nicht geübt sind.

»Wer auf eine Dating-Plattform geht, muss sich darüber im Klaren sein, dass er ein Bild in einem Katalog wird, in einem Menschenkatalog.«

Hinzu kommt: Immer mehr Menschen sind fixiert darauf, unbedingt ihre Grenzen zu wahren. Auch das führt zu mehr Kontaktabbrüchen. Man könnte auch sagen: Ghosting verhindert Entwicklung und Reifung – auch einer Gesellschaft. Es geht um die ­Fähigkeit, Gefühle lesen und verstehen zu können. Empathiefähigkeit ist eine Grundlage, auf der sozialer Zusammenhalt überhaupt erst entstehen und wachsen kann.

Gibt es denn auch Situationen, in denen der wortlose Kontaktabbruch angebracht ist?
Natürlich gibt es manchmal Gründe, wortlos zu gehen, nämlich dann, wenn ein Kontakt als einengend oder schädlich empfunden wird, wenn man nicht man selbst sein kann in dem Kontakt. Dann wäre der Abbruch ein Ausbruch. Dann würde die andere Seite aber wohl erahnen, dass der Sturm vor der Stille schon früher stattfand und es Gründe für die Funkstille gibt. Wenn es aber ­irgend möglich ist, sollte der Abbrecher wenigstens versuchen, dem Verlassenen ein paar Worte zu gönnen.

Sie schreiben, Ghosting übertrage die Logik sozialer Medien ins nichtdigitale Leben: Wer sich daran gewöhnt, Menschen einfach blockieren und Kontakte »löschen« zu können, der sucht auch im »echten« Leben nach dem Aus-Schalter für so­ziale Beziehungen. Ist es wirklich so simpel? Immerhin ist es ja auch eher selten, dass sich Menschen miteinander so spontan »befreunden«, wie es in sozialen Medien üblich ist.
Da antworte ich mal mit einem Zitat: »Ich suche. Ich suche nach der Passenden. Der Besten. Erfüllt sie meine Ansprüche nicht, breche ich ab. Wozu das in Worte kleiden? Dank der Digi­ta­li­sie­rung ist das virtuelle Regal gut gefüllt. Man muss nur zugreifen. Passt eine nicht, geht sie eben retour!« Das sagte mir ein 27jähriger Mann im Interview. Er ist damit keine Ausnahme. Seine Ausdrucksweise erinnert an einen Online-Einkauf bei Amazon. Und wenn in allen Bereichen das Bestellprinzip gilt, warum nicht auch in Beziehungen? Wir sind es inzwischen gewohnt, alle Waren zurückschicken zu dürfen, und dieses Retourrecht haben wir auf uns Menschen übertragen. Von einem Produkt muss man sich nicht verabschieden. Ich verabschiede mich auch nicht von einer Marmelade. Heute schmeckt sie mir, morgen eben nicht.

Sie schreiben: »Kommst Du mit meiner Art nicht klar oder kannst Du mir nichts geben, investiere ich nicht weiter in diese Freundschaft. Das Problem: So entsteht keine Freundschaft, so entstehen Geschäfte, Deals, Verträge.« Im englischen Sprachraum gibt es die Redewendung, jemand sei »high maintenance«, also eine Beziehung sei aufwendig zu »warten«. Entspricht das Ihrer Idee von der Übertragung einer Marktlogik auf soziale Beziehungen?
Genau das sage ich in meinem Buch, und dafür habe ich auch Eva Illouz zitiert. Ghosting ist Ausdruck einer Verdinglichung, wie ich eben sagte. Diejenigen, die auf Dating-Plattformen gehen – wo es ja um Angebot und Nachfrage geht –, reihen sich in das Regal der Möglich­keiten ein. Wer auf eine Dating-Plattform geht, muss sich darüber im Klaren sein, dass er ein Bild in einem Katalog wird, in einem Menschenkatalog. Die Partnervermittlungs- und Dating-Plattfor­men haben Ghosting zur Option gemacht, so wie sie aus den Nutzern selbst Optionen gemacht haben. Das vom Algorithmus generierte Kennenlernen erfasst nicht mehr, was Annäherung bedeutet. Es hat die Begegnung, die einst absichtslos geschah, sich bestenfalls magisch einstellte, berechnet und damit beschleunigt. Zeit hat keiner mehr. Nähe wird auf Knopfdruck produziert.

Sie haben die Soziologin Eva Illouz erwähnt. Sie beschrieb in ihrem Buch »Warum Liebe weh tut«, dass die kapitalistische Gesellschafts­ordnung Einfluss auf Liebesbeziehungen hat. Wenn Menschen gewohnt sind, permanent wie eine austauschbare Ressource behandelt zu werden, muss die Beziehung auch dem Selbstwertgefühl dienen. ­Halten Sie das für stichhaltig?
Das Ideal der reinen Liebesbeziehung ist Geschichte geworden. Eine Beziehung muss nun offenbar etwas bringen, sie muss einen Nutzen haben, einen Mangel beheben. Viele Menschen wählen Kontakte mittlerweile nach Zweckmäßigkeit aus. Neue Freunde sollen ins Portfolio passen, böse ausgedrückt in meinen »Menschenzirkus«. Einen Schauspieler in seinem Bekanntenkreis zu haben oder einen genialen Künstler, wertet den Topmanager auf. Er holt sich, was ihm fehlt. Er investiert Zeit, also will er von dem Kontakt auch profitieren. Das ist meiner Meinung nach eine Kompensation von eigenen Mängeln, manchmal auf Kosten von Menschen, die wirklichen Austausch und Interesse erwarten. Sie werden missbraucht, um die Leere des anderen zu füllen.

Für Ihr Buch haben Sie mit Psychologinnen und Psychologen gesprochen. Eine Erkenntnis, die sich hier herauslesen lässt: Abruptes Verlassenwerden kann als geradezu traumatisch empfunden werden. Schadet die moderne Dating-Kultur der Psyche?
Ein plötzliches Verschwinden kann tiefe Verletzungen auslösen, muss es aber nicht. Diejenigen, die sich professionelle Hilfe suchen, sind tief verunsichert und berichten davon, dass nichts in ihrem Leben eine heftigere Wirkung auf sie hatte als der Kontaktabbruch. Er habe sie in eine tiefe Krise gestürzt, weil sie sich auch fragten, ob sie sich die ganze Zeit getäuscht hatten. Ihre Selbstwahrnehmung gerät ins Wanken. Und natürlich ist das Selbstbewusstsein nach dem Ghosting stark angekratzt. Fällt dann das Verlassenwerden auch noch auf fruchtbaren Boden, etwa weil es ein bekanntes Muster oder eine alte Wunde gibt, die wieder aufgerissen wird, dann kann Ghosting besonders schädlich sein und alte Traumata ­wieder aktivieren.

»Am Ende führt, überspitzt formuliert, der Ghost menschlich gesehen selbst eine Phantomexistenz.«

Ein zusätzliches Problem: Ungeklärtes beschäftigt unser Gehirn mehr als geklärte Dinge. Wir grübeln, können nicht aufhören, nach einer Lösung, einer Erklärung zu suchen. Ein Geschehen muss sinnhaft sein. Ein Schlussstrich ohne Erklärung wirkt willkürlich, ja geradezu chaotisch. Um mit einem Verlust klarzukommen, muss man ihn verstehen.

Sie haben sich auch nach Ihrem Buch »Ghosting« weiter mit dem sich verändernden Dating-Verhalten beschäftigt, unter anderem in dem ZDF-Dokuformat »37 Grad« unter dem Titel »Wisch und weg – Wie man sich heute findet und verpasst«. Dort heißt es, jeder zweite wurde schon einmal geghostet. Wie haben Sie diesen Anteil ermittelt? Und denken Sie, dass er steigen könnte?
Diese Einschätzung basiert auf meinen jahrelangen Recherchen und Auswertungen von Umfragen. Der ­Anteil der Geghosteten ist mittlerweile tatsächlich gestiegen. Aktuell gibt es Umfragen, die zeigen, dass 65 Prozent der Generation Z und der Millennials schon einmal jemanden geghostet haben und dass 84 Prozent schon einmal geghostet wurden.
In den vielen Gesprächen mit den Ghosts wurde auch eines besonders deutlich: Wer einmal auf diese Art die Kommunikation vermeidet, wird es immer wieder tun. Bindungsangst und Vereinzelung sind die Folge. Am Ende führt, überspitzt formuliert, der Ghost menschlich gesehen selbst eine Phantomexistenz.

*

Tina Soliman

Tina Soliman

Bild:
privat

Tina Soliman ist Journalistin, Autorin und Regisseurin. Für ihre Produktionen für ARD und ZDF hat sie mehrere internationale Preise erhalten. Ihr Buch »Ghosting – Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter« erschien 2019 bei Klett-Cotta. Zuvor schrieb sie »Der Sturm vor der Stille. Warum Menschen den Kontakt abbrechen« (2014) und »Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen« (2011), beide ebenfalls bei Klett-Cotta erschienen.