Dimash Alzhanov, Politikwissenschaftler, im Gespräch über die Folgen der Proteste in Kasachstan

»Die Gesellschaft hat sich durch die Proteste verändert«

Zwei Jahre ist es her, dass in Kasachstan Zehntausende gegen die Regierung protestierten. Bei der Niederschlagung der Proteste wurden Hunderte Demonstrierende erschossen. Russische Truppen halfen Präsident Qassym-Schomart Toqajew, sich an der Macht zu halten. Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Dimash Alzhanov darüber, wie die damaligen Proteste, aber auch Russlands Krieg gegen die Ukraine die kasachische Gesellschaft prägen.

Im Januar 2022 erlebte Kasachstan die größten regierungskritischen Proteste seit seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991. Sie entzündeten sich an einer Erhöhung der Flüssiggaspreise, gründeten aber wahrscheinlich auf politischer und wirtschaftlicher Unzufriedenheit; landesweit sollen sich über 50.000 Menschen beteiligt haben. Was haben die Proteste bewirkt?
Das Regime erlebte einen Schock. Teile der Eliten nutzten die Situation, um das frühere Staatsoberhaupt Nursultan Nasarbajew (der zwar 2019 nach fast 30 Jahren zurücktrat, aber als Vorsitzender des Sicherheitsrats bis 2022 und mit der in der Verfassung verankerten Position als »Führer der Nation« weiterhin die mächtigste Person des Landes blieb, Anm. d. Red.) und seine Vetrauten zu vertreiben und Präsident Qassym-Schomart Toqajew die Macht zu sichern, doch das System und seine Grundlagen wurden bewahrt. Wir sind eine Autokratie geblieben. Es gibt keine fairen Wahlen. Es gibt keine legalen Mittel, um die Machtverhältnisse zu ändern und die Leute an der Spitze auszuwechseln. Es gibt nur marginale Rede- und Meinungsfreiheit.
Viel Kritik aus dem Ausland muss das Regime nicht befürchten: Als bei den Protesten auf Demonstrierende geschossen wurde, schwieg die internationale Gemeinschaft – auch Deutschland. Aufgrund des russischen Kriegs gegen die Ukraine sind viele Länder mehr am Kauf von kasachischem Öl und Gas interessiert.

Hat sich denn in der kasachischen Gesellschaft etwas durch die Proteste verändert?
Es war das erste Mal in unserer Geschichte, dass so viele Menschen auf die Straße gingen, allein hier in Almaty waren es 15.000. Es war ermutigend, aber gleichzeitig war auch klar, dass es nicht viel bringen würde, denn eine ­organisierte Opposition gibt es in Kasachstan nicht. Die Regierung legt ­allen, die offen gegen das System sind, ständig neue Beschränkungen auf. Wir haben keine Vertreter, auf die sich die Gesellschaft verlassen kann. Und so war es damals für die Regierung sehr einfach, die Proteste einzudämmen und sie so zu beeinflussen, dass sie eskalieren und es dann einen Grund gibt, tödliche Waffen gegen die Demonstranten einzusetzen.
Allerdings habe ich Hoffnung: Wenn wir auf die Ukraine schauen, gab es dort die ersten Proteste 2004, aber erst 2014 haben sie es geschafft, das System in ein ausgewogeneres, demokratischeres zu ändern. Ich bin optimistisch, dass wir das auch schaffen, denn die Gesellschaft hat sich durch die Proteste definitiv verändert und fordert nun offen eine politische Veränderung.

2022 wurde am Zentrum der Proteste, dem Rathaus von Almaty, ein Denkmal aufgestellt, das an die Ereignisse und ihre Opfer erinnern soll. Doch es besteht nur aus Stelen mit Zitaten kasachischer Dichter und Autoren – sieht so die offizielle Erinnerung an die Proteste aus?
Die Regierung wollte mit dem Denkmal Respekt vor den Opfern zeigen, hat das aber auf eine sehr falsche Weise ­getan. Wir hatten hier gerade Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, und weil die Regierung gesehen hat, dass viele sehr unzufrieden sind, haben sie die Opfer für ihre Kampagne genutzt. Aber sie haben sich nicht eingestanden, dass sie etwas falsch gemacht haben. Sie haben einfach dieses Denkmal aufgestellt, ohne jegliche Verbindung zu den Menschen oder zu den damaligen Ereignissen. Sie wollten vermitteln: Wir haben getan, was ihr wolltet, also lasst uns vergessen, was passiert ist.

Gab es eine juristische Aufarbeitung der Proteste?
238 Menschen wurden nach offiziellen Angaben landesweit getötet, aber nach inoffiziellen Schätzungen waren es viel mehr. Viele waren Unbeteiligte, die nur in der Nähe standen. Eine unabhängige Untersuchung der Ereignisse gab es nie. Ein paar Verantwortliche wurden im Geheimen ­verurteilt, während mehrere Demonstrierende lange Haftstrafen bekamen. An ihnen sollte ein Exempel statuiert und gezeigt werden, was mit denen passiert, die sich gegen die Regierung stellen.

Einige politische Änderungen gab es aber doch nach den Protesten: So ließ der Präsident die Verfassung reformieren.
Das waren kosmetische Reformen. Toqajew hat an einigen Formulierungen gespielt und 33 Verfassungsartikel ändern lassen, doch substantielle Änderungen gab es nicht. Er wollte vor allem einen öffentlichen Bruch mit den Teilen der Eliten vollziehen, die weiter zu Nasarbajew standen, und verkünden: Ich bin das neue Kasachstan.
Doch der Spruch »Alte Männer raus«, der im Januar 2022 von den Menschen gerufen wurde, richtete sich nicht nur gegen Nasarbajew und seinen Kreis, es ging um das ganze politische System, das auf den Präsidenten als zentrale Figur zugeschnitten ist. Toqajew kann nach wie vor ganz allein die Regierung ernennen oder das Parlament auf­lösen.

Die Regierung versucht also, eine demokratische Fassade aufzubauen, aber in Wirklichkeit behält Toqajew weiterhin autokratisch die Macht?
Genau. Es erinnert an Russland vor 2011: Damals waren viele in Europa so optimistisch, dass Präsident Wladimir Putin angeblich versucht, ein pragmatischer und realistischer Freund zu sein. Auch das Regime in Kasachstan zeigt sich gegenüber dem Westen pragmatisch und will kooperieren, und die Europäer schlucken das.

Welchen Einfluss hat denn die rus­sische Invasion der Ukraine auf die Politik in Kasachstan?
Die Invasion begann einen Monat nach den Protesten hier und entsprechend war auch die Präsenz der russischen Streitkräfte in Kasachstan vielen Menschen noch präsent. Viele Kasachen ­haben die Anwesenheit der Russen sehr persönlich genommen und deshalb viel Solidarität mit der Ukraine gezeigt. Hier in Almaty fand eine der größten Kundgebungen in Kasachstan zur Unterstützung der Ukraine mit mehr als 3.000 Menschen statt. Die Leute haben angefangen, Hilfsgüter und Geld zu sammeln und in die Ukraine zu schicken. Es ging darum zu zeigen: Wir haben keine Angst. Wir sind immer noch hier. Und wir haben die Fähigkeit, uns gegenseitig zu helfen.
Die Kasachen verfolgen sehr genau, wie Russland das kasachische Territorium nutzt, um die Sanktionen des Westens zu umgehen und Zugang zu den Weltmärkten und sanktionierten Produkten zu erhalten, insbesondere zur Herstellung von Waffen.

Aber die gesellschaftliche Unterstützung für die Ukraine findet anscheinend nicht öffentlich statt – ukrainische Flaggen oder offene Kritik am Putin-Regime sind in ­Kasachstan kaum zu bemerken.
Die Regierung ergreift Maßnahmen dagegen. Vergangenes Jahr gab es hier beispielsweise ein Konzert mit ukrai­nischen Popsängern, und als Leute mit ukrainischen Fahnen hingingen, hat die Polizei sie ihnen weggenommen. Die kasachische Regierung tut alles, um Russland nicht zu verärgern, doch gleichzeitig will sie auch nicht in eine Abhängigkeit von Russland geraten und weiterhin gute Beziehungen mit westlichen Staaten pflegen. Das heißt, nach außen zeigt sich Kasachstan neutral und erkennt die von Russland besetzten Gebiete nicht an, doch zugleich werden keine großen Anstrengungen unternommen, um zu unterbinden, dass Russland die Sanktionen umgeht.
 

»Die kasachische Regierung tut alles, um Russland nicht zu verärgern, doch gleichzeitig will sie auch weiterhin gute Beziehungen mit westlichen Staaten pflegen.«

Gibt es denn die Befürchtung, dass so etwas wie in der Ukraine vielleicht auch in Kasachstan passieren könnte? Russland könnte Ansprüche auf die nördlichen Teile des Landes erheben, wo viele ethnische Russen leben.
Die kasachische Regierung hat mög­liche Sezessionsbestrebungen des Nordens immer wieder als Drohung benutzt: Wenn wir anfangen, das System zu reformieren, wird der Norden die Un­abhängigkeit fordern oder sie werden sich Russland anschließen. Also lassen wir die Situation so, wie sie ist. Alle sind glücklich und es gibt keinen Grund für eine politische Veränderung.
Doch ich denke, wir sollten keine Angst vor Veränderungen haben. Russland ist in der Ukraine beschäftigt. Und ist es überhaupt attraktiv, eine fast menschenleere Region mit fast keiner Industrie und keinen Ressourcen zu erobern?

Hat denn der russische Krieg gegen die Ukraine auch in Kasachstan dazu geführt, die russische beziehungsweise sowjetische Geschichte des Landes aufzuarbeiten?
Das hat in den vergangenen Jahren ­angefangen in kleinen Kulturvereinen und bei Intellektuellen. Aber es gibt keine Bestrebungen der Regierung, viel Geld und Mittel bereitzustellen, um Archive zu öffnen und die Vergangenheit aufzuarbeiten. Bestimmte Dinge wollen sie nicht öffentlich machen, etwa Repression in der Sowjetzeit, auch weil sie daran beteiligt waren. Mit Toqajew steht auch jemand an der Spitze, der selbst Karriere in der Sowjetunion gemacht hat.

Kasachstan war lange ein russischsprachig geprägtes Land. Sprechen denn seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine mehr Menschen Kasachisch?
Ja, aber das liegt nicht nur am Krieg. Die demographische Entwicklung ändert sich: Die Zahl der Kasachisch sprechenden Menschen steigt, vor allem weil die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten viel stärker wächst als in den Städten. Zudem haben viele russischsprachige Menschen das Land verlassen. Diese Entwicklungen führen dazu, dass Kasachisch sich immer mehr durchsetzt. Vielleicht wird es in den kommenden 20 Jahren zur dominanten Sprache.

Alzanov

Dimash Alzhanov ist ein politischer Analyst aus Almaty. Er studierte Politik­wissenschaften in Großbritannien und hat für interna­tionale Organisationen gearbeitet, darunter die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Sein wissenschaftlicher Fokus liegt auf politischen Parteien und Wahlen sowie der Analyse von Regimewechseln. Er ist Gründer der NGO Erkin Qazaqstan, die sich für demokratische Reformen in Kasachstan einsetzt.