Anton Horb, stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft von Nowa Poschta, im Gespräch über Gewerkschaftsarbeit unter Kriegsbedingungen

»Wir kämpfen immer noch für jedes Mitglied«

Die Angestellten von Nowa Poschta, dem größten privaten Post­unternehmen der Ukraine, sind bekannt dafür, dass sie selbst in der Nähe der Front die Auslieferung von Briefen und Paketen gewährleisten. Die Arbeit ist gefährlich, viele der Angestellten sind durch den Krieg zu Flüchtlingen geworden oder kämpfen als Soldaten in der Armee. Außerdem hat die Regierung nach dem russischen Einmarsch von 2022 wichtige Arbeiterrechte ausgesetzt und die Rechte von Gewerkschaften stark beschnitten.
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Nach dem Einmarsch Russlands im Februar 2022 hat sich die Arbeits­gesetzgebung in der Ukraine stark verändert. Wie hat sich das auf die Arbeit Ihrer Gewerkschaft ausgewirkt?
Unsere Arbeit hat sich erheblich verändert. Erstens wurde unsere Haupterrungenschaft und unser ganzer Stolz, der Tarifvertrag, abgewertet (da das Kriegsrecht den Unternehmen erlaubt, Teile von Tarifverträgen außer Kraft zu setzen; Anm. d. Red.). Unserer Meinung nach war der von uns ausgehandelte Tarifvertrag der beste bei Privatunternehmen in der Ukraine. Das war ein schwerer Schlag für die Gewerkschaft. Und deshalb war unser erstes Bemühen, den Tarifvertrag um jeden Preis wiederherzustellen, denn wir wussten, dass der Krieg nicht in ein oder zwei Monaten zu Ende sein würde. Im vergangenen Jahr haben wir das endlich geschafft.

Was für andere neue Aufgaben sind durch den Krieg für die Gewerkschaft entstanden?
Die zweite wichtige Aufgabe, auf die wir uns nach der Invasion konzentriert haben, war die Unterstützung aller ­Arbeiter und Gewerkschaftsmitglieder, die direkt unter dem Krieg litten. Leute, die als Soldaten mobilisiert oder vertrieben wurden oder fliehen mussten. Wir haben unsere finanzielle Hilfe für Betroffene erheblich aufgestockt.
Der dritte Fokus unserer Arbeit ist natürlich nach wie vor die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, denn Krieg ist zwar Krieg, aber niemand sollte unter Bedingungen arbeiten müssen, die seine Gesundheit beeinträchtigen oder sein Leben bedrohen.

Wie hat das Unternehmen Nowa Poschta auf die Invasion reagiert?
Das Unternehmen hat, wie alle anderen auch, nicht mit dem Krieg gerechnet und daher anfangs recht chaotisch rea­giert. Es gab keine systematischen Maßnahmen, wie es sie jetzt gibt, sondern es wurde improvisiert. Zu Beginn der Invasion hing es von der Leitung jeder Filiale und den örtlichen Mitarbeitern ab, ob der Betrieb überhaupt noch fortgesetzt wurde. Bald wurden dafür aber Regelungen gefunden, auch weil besser absehbar war, welche Teile des Landes sehr gefährlich sind und in welchen es schlicht unmöglich ist, noch zu arbeiten.

»Die Logik hier ist sehr einfach: Das Unternehmen arbeitet nicht in den umkämpften Grau­zonen, nicht in den besetzten Gebieten.«

Das Unternehmen hat das Land in drei Zonen eingeteilt: in roten Zonen arbeiten wir nicht mehr, in gelben Zonen mit gewissen Einschränkungen und in grünen Zonen wie normal. Nowa Poschta hat das gemacht, weil es als kritische Infrastruktur eingestuft wurde und wichtig für die Versorgung in der Ukraine ist.

Hat das Unternehmen Filialen im Kriegsgebiet geschlossen?
Die Logik hier ist sehr einfach: Es arbeitet nicht in den umkämpften Grau­zonen, nicht in den besetzten Gebieten. Aber solange es eine funktionierende ukrainische Infrastruktur gibt, wie beispielsweise ukrainisches Internet, Mobilfunk, Elektrizität, und am wichtigsten natürlich, solange es in einem Gebiet Zivilisten gibt, wird Nowa Poschta dort arbeiten.

Wie ist Nowa Poschta mit seinen Mitarbeitern verfahren, die in der Anfangsphase des Kriegs unter russische Besatzung gerieten?
Nowa Poschta hat sich darum bemüht, Angestellte, die sich unter russischer Besatzung wiederfanden, beispielsweise in Städten wie Cherson, sowie alle, die aus diesen Gebieten geflohen waren, weiter zu beschäftigen, wenn auch oft in anderen Arbeitsbereichen als bisher und oft nur in Teilzeit. Dennoch hat das Unternehmen allein im ersten Monat der Invasion über 900 Arbeitsverträge ausgesetzt.

Aus welchen Gründen wurden die Arbeitsverträge gekündigt?
Mit dem Inkrafttreten des Kriegsrechts bekamen alle Arbeitgeber das Recht, Arbeitsverträge für die Dauer des Kriegszustands einfach auszusetzen. Die Gründe für die Kündigungen waren sehr einfach: Wenn der Betrieb nicht mehr funktionieren kann, wie zum Beispiel im besetzten Cherson, wo es für ukrainische Unternehmen unmöglich war, weiter zu arbeiten, machte Nowa Poschta wie viele andere Arbeitgeber von diesem Recht Gebrauch und setzte Arbeitsverträge auf unbestimmte Zeit aus.

»Fast sofort nach der Invasion hat das Parlament neue Gesetze erlassen, die den Gewerkschaften beispielsweise das Recht nahmen, Entlassungen durch den Arbeitgeber zu verhindern, solange Kriegsrecht gilt.«

Aus Sicht der Gewerkschaft bewerteten wir das natürlich negativ und wir setzten uns dafür ein, die Folgen so gut wie möglich abzufedern. Wir kontaktierten die suspendierten Angestellten, um herauszufinden, was ihre Situation war, wo sie sich aufhielten, ob sie überhaupt arbeiten konnten. Falls ja, dann suchten wir gemeinsam nach einer freien Stelle für sie.
Es gab auch mildere Fälle bei Nowa Poschta, wo beispielsweise Personen von Büroarbeitsplätzen entlassen wurden, sie aber stattdessen Stellen in Fi­lialen oder im Lieferdienst angeboten bekamen. Wir als Gewerkschaft wurden aber vieler Rechte und fast aller Hebel beraubt, mit denen wir die Suspendierungen oder Entlassungen hätten verhindern können.

Wie wurden die Möglichkeiten der Gewerkschaften eingeschränkt?
Fast sofort nach der Invasion hat das Parlament neue Gesetze erlassen, die den Gewerkschaften beispielsweise das Recht nahmen, Entlassungen durch den Arbeitgeber zu verhindern, solange Kriegsrecht gilt. Den Gewerkschaften wurde außerdem untersagt, Aktionen wie beispielsweise Streiks durchzu­führen.
Den Arbeitgebern gewährte der Staat dagegen während der Gültigkeit des Kriegsrechts die Möglichkeit, Bestimmungen von Tarifverträgen auszusetzen. Nowa Poschta hat davon Gebrauch gemacht. Es hat zwar nicht den gesamten Tarifvertrag, aber viele Klauseln aus ihm aufgekündigt. Erst vor etwas mehr als einem halben Jahr gelang es uns, nach Verhandlungen fast alle dieser Klauseln wieder in Kraft zu setzen.

Welche Klauseln des Tarifvertrags hatte Nowa Poschta suspendiert?
Das Wichtigste für die Gewerkschaft, und ich denke auch für die Arbeiter, war, dass das Unternehmen nicht länger 0,5 Prozent des Lohns aus eigener Tasche als Gewerkschaftsbeitrag gezahlt hat. Das Unternehmen hat diese Zahlungen unilateral ausgesetzt. Außerdem setzte das Unternehmen zahlreiche Regeln für Kündigungen, vorgeschriebene Konsultationen mit der Gewerkschaft in bestimmten Situationen, Urlaubszeiten und so weiter, aus.
Das bedeutete, dass das Unternehmen für eine große Gruppe der Arbeiter jederzeit und unilateral die Arbeits­bedingungen stark verändern konnte. Und all dies wird mit dem Krieg begründet. Aber die Gewerkschaft hat dem nicht zugestimmt, auch wenn sie keine Druckmittel mehr hatte. Wir haben die Gewerkschaftsarbeit nie eingestellt. Auch wenn wir kaum noch rechtliche Instrumente haben, kämpfen wir immer noch für jedes Mitglied in jeder Lage, in der sie sich befinden können.

Und was ist mit Mitgliedern, die Soldaten geworden sind?
Auch für die. Im Sommer 2022 hat das ukrainische Parlament, die Werchowna Rada, eine neue Norm des Arbeitsgesetzes verabschiedet, die es gestattet, die Lohnfortzahlung am Hauptarbeitsort für mobilisierte Personen zu beenden. Nowa Poschta hat das sofort umgesetzt und die Lohnzahlungen für mobilisierte Arbeiter gestrichen.

Was hatte das für Folgen?
Nowa Poschta unterscheidet sich von anderen Unternehmen dadurch, dass alle Mitarbeiter legal beschäftigt sind, dass sie registriert sind, dass sie ein voll versteuertes Gehalt erhalten und dass der Arbeitgeber Sozialbeiträge zahlt (in der Ukraine ist in vielen Wirtschaftsbereichen Schwarzarbeit stark verbreitet; Anm. d. Red.). Das bedeutet, dass das Unternehmen recht transparent und schnell mit allen staatlichen Behörden kommuniziert.

»Es gelang uns nach zwei, drei Wochen, eine Ei­nigung zu erzielen, dass die mobilisierten Arbeitnehmer auch in der Armee eine finanzielle Unterstützung erhalten.«

Eine Folge davon ist, dass es den Re­krutierungsbehörden leichtfällt, unsere Mitarbeiter zu finden, was dazu geführt hat, dass unser Unternehmen viele mobilisierte Mitarbeiter hat. Und den zur Armee Eingezogenen wurde das Gehalt gestrichen, was natürlich zu großer Unzufriedenheit führte. Wir gingen in Verhandlungen und es gelang uns nach zwei, drei Wochen, eine Ei­nigung zu erzielen, dass die mobilisierten Arbeitnehmer auch in der Armee eine finanzielle Unterstützung erhalten. Ich bin übrigens selbst in der ­Armee.

Wirkt sich die Tatsache, dass Sie und der größte Teil der Gewerkschaftsführung in der Armee sind, negativ auf die Arbeit der Gewerkschaft aus?
Ja, das beeinträchtigt die Arbeit der Gewerkschaft sicherlich. Natürlich hat das einen großen Einfluss. Ich möchte allerdings sagen, dass es für die Gewerkschaft auch gut ist, dass es Leute in ihr gibt, die aus eigener Erfahrung wissen, was sich außerhalb des zivilen Lebens abspielt. Damit meine ich, wie und zu welchen Kosten der Krieg geführt wird.

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Anton Horb ist stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft von Nowa Poschta, dem größten privaten Postunternehmen der Ukraine. Sie wurde 2015 gegründet und ist damit eine der jüngsten Gewerkschaften des Landes. Unter den 42.000 Beschäftigten des Unternehmens hat sie rund 10.000 Mitglieder. Nowa Poschta konkurriert mit dem staatlichen Postunternehmen Ukrposchta und unterhält auch zahlreiche Filialen in Deutschland. Nach der umfassenden russischen Invasion im Jahr 2022 wurde das Unternehmen als kritische Infrastruktur für die Zivilbevölkerung eingestuft, denn die Postarbeiter liefern unter anderem humanitäre Hilfe und Versorgungsgüter an Zivilisten und Militärangehörige in der Nähe der Front. Die Arbeitsbedingungen im Krieg sind oft schwierig und gefährlich, viele Mitarbeiter von Nowa Poschta haben das Land verlassen. Zusätzlich verschlechtert hat sich die Situation der Arbeiter durch drastische Einschränkungen der Arbeiter- und Gewerkschaftsrechte nach der Invasion. Solange das Kriegsrecht gilt, können Arbeitgeber Tarifverträge revidieren und Angestellte entlassen. Die Möglichkeiten der Gewerkschaften, sich dagegen zu wehren, sind stark eingeschränkt. Anton Horb ist seit März 2022 Soldat der ukrainischen Armee.