In Kasachstan sucht Präsident ­Toqajew Verantwortliche für die Eskalation der ­Massenproteste

Toqajew räumt auf

Nach den Massenprotesten in Kasachstan, bei denen mindestens 225 Menschen ums Leben kamen, werden wichtige Kader entlassen. Versagen im Staatsapparat sowie der gezielte Einsatz von Provokateuren hatten offenbar zur Eskalation beigetragen.

Am 19. Januar starteten die letzten vier Transportflüge mit russischen Truppenangehörigen aus Kasachstan. Damit ist der erste Militäreinsatz im Rahmen der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) Geschichte. Jetzt konzen­triert sich die Regierung Kasachstans darauf, Konsequenzen aus den landesweiten Massenprotesten von Anfang Januar zu ziehen. Noch am selben Tag unterzeichnete Präsident Qassym-Schomart Toqajew ein Dekret über die Einrichtung einer Spezialeinheit bei den Streitkräften, die allem Anschein nach in Zukunft eine gesonderte Rolle bei der Niederschlagung von Unruhen im eigenen Land spielen könnte.

In Zahlen gefasst lautet die Zwischenbilanz der im Westteil des Landes ­überwiegend friedlich verlaufenen Proteste, die in der ehemaligen Hauptstadt Almaty und in derzeitigen Hauptstadt Nur-Sultan jedoch umschlugen und gewalttätig wurden, wie folgt: Nach jüngsten Angaben der Generalstaatsanwaltschaft laufen derzeit 819 Strafverfahren gegen 970 Personen, von denen sich 782 in Polizeigewahrsam und 29 unter Hausarrest befinden. In 15 Fällen wird wegen Mordes ermittelt, in 45 wegen Terrorismus. Zuvor hieß es aus dem ­Innenministerium, insgesamt seien 1 822 strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Die Generalstaatsanwaltschaft spricht mittlerweile von 225 Todesopfern, darunter 19 Polizei- und Militärangehörige, und mehr als 4 500 Verletzten.

Augenzeugen berichteten, der Wachschutz habe sich vor dem Gebäude des Geheimdienstes zurückgezogen und damit Marodeuren Zugang zu dort gelagerten Waffen ermöglicht.

Toqajew entlässt derweil Kader, die sich als unzuverlässig oder schlicht unfähig erwiesen haben, aus dem Amt. Dazu gehört allen voran Verteidigungsminister Murat Bektanow. Er habe keine Führungsstärke bewiesen, sei nicht in der Lage gewesen, in einer kritischen Situation die ihm unterstellte Armee einzusetzen, so dass Hilfe von außen habe angefordert werden müssen, lautete Toqajews Begründung. Damit die Verantwortung für die Einschaltung der OVKS nicht an ihm hängen bleibt, musste der Präsident einen geeigneten Schuldigen finden. Bektanow steht jedoch auch für ein korruptes System, das informellen politischen Einfluss und enge Beziehungen zu den richtigen Personen im Machtapparat weit über die professionelle Eignung stellt. Nachdem Samat Abisch, der Erste Stellvertretende Vorsitzende des Komitees für nationale Sicherheit (KNB), des kasachischen Inlandsgeheimdiensts, und gleichzeitig ein Neffe des ehemaligen Präsidenten Nursultan Nasarbajew, zunächst seinen Posten behalten hatte, traf es nun auch ihn; er wurde entlassen. Nasarbajew, der bis zum 5. Januar Vorsitzender des Sicherheitsrates Kasachstans war und weiterhin über enormen politischen Einfluss verfügt, trat vor kurzem nach langer Pause mit einer Videobotschaft an die Öffentlichkeit. Zuvor war er regelrecht abgetaucht.

Die Aufarbeitung der Januarproteste steht erst am Anfang, aber schon jetzt spricht einiges dafür, dass Versagen im Staatsapparat, weil keine Entscheidungen fielen und sich die Führung passiv verhielt, ebenso zu der Eskalation beigetragen hat wie der gezielte Einsatz von Provokateuren. Was davon und vor allem wie sich dies in der juristischen Klärung niederschlagen wird, steht auf einem anderen Blatt. Karim Mässimow, bis Anfang Januar Leiter des KNB, wird Hochverrat vorgeworfen, und mit ziemlicher Sicherheit wird ihm offiziell die Hauptschuld für das Versagen zugeschoben werden. Einst Ministerpräsident (2007–2012) mit einem guten Draht zur russischen Führung, wurde er von Nasarbajew dazu auserkoren, den vom Langzeitpräsidenten initiierten und 2019 mit seinem Rücktritt eingeleiteten Machttransfer zu begleiten und überwachen.

Als Nachfolger Nasarbajews kam Mässimow indes schon deshalb nie in Frage, weil er nicht als ethnischer Kasache gilt, sondern als Uigure. Da er sich auch jetzt kaum Chancen auf das Präsidentenamt ausrechnen konnte, kommt er als treibende Kraft einer von der jetzigen kasachischen Führung vermuteten Verschwörung eigentlich nicht in Frage. Augenzeugen berichteten, dass sich der Wachschutz vor dem Gebäude des KNB in Almaty kurz vor der Gewalteskalation zurückgezogen und damit Marodeuren Zugang zu dort gelagerten Waffen ermöglicht habe. Somit steht die Vermutung im Raum, dass Mässimow Kräfte unterstützt haben könnte, die an einer Eskalation der Proteste interessiert waren, sei es, um Nasarbajews Einfluss zu schwächen, sei es, um Toqajew als Präsidenten zu diskreditieren.

Versionen, die Toqajew als den Urheber gewalttätiger Auseinandersetzungen benennen, entbehren insofern jeglicher Logik, als ihm offensichtlich ein Vertrauensmann in den höchsten Rängen von Armee und Geheimdienst fehlte; diese sind mit Personen besetzt, die ihre Karriere Nasarbajew und dessen Vertrauten zu verdanken haben. Zumal Toqajew als Diplomat viele Jahre im Ausland verbracht hatte, was ihm für seine Kandidatur als Übergangspräsident vermutlich zum Vorteil geriet: Man erwartete offenbar, dass er so im kasachischen Machtgefüge nur bedingt unabhängig agieren könne, weil er kaum eigene Hausmacht besaß. Er geht aus der Krise als Sieger hervor, was eher als Resultat besonnenen Handelns zu werten ist.

Risikobereitschaft dürfte hingegen Nasarbajews weitverzweigter Verwandtschaft naheliegen, dessen Clan die Metropole Almaty fest im Griff hat. Nasarbajews jüngerer Bruder Bolat etwa, der mittlerweile das Land verlassen hat, machte ein Vermögen mit der Aneignung großer Bazare in der Stadt. Es ist keineswegs abwegig, dass Samat Abisch als hoher Geheimdienstfunktionär und sein Bruder Kajrat Satybaldy versucht haben könnten, die Situation spontan für sich zu nutzen. Als enge Angehörige des ersten Präsidenten der Republik Kasachstan, der trotz seines Rücktritts 2019 immer noch als »Führer der Nation« eine in der Verfassung garantierte Vormachtstellung und gewisse Privilegien genießt, dürften ihnen Toqajews Fortschritte bei der Machtübernahme im Apparat ein Dorn im Auge gewesen sein.

Satybaldy jedenfalls verfügt über enge Kontakte ins islamistische Milieu. In der offiziellen Lesart der Ereignisse spielten bewaffnete islamistische Terroristen, auch ausländische, bei der Eskalation der Proteste eine entscheidende Rolle. Selbst von enthaupteten Sicherheitskräften war die Rede. Beweise liegen für die zahlreichen Behauptungen von unterschiedlicher Seite allerdings nicht vor. Das kasachische Nachrichtenportal Orda veröffentlichte jüngst ein Interview mit einem ehemaligen hochrangigen Offizier der Nationalgarde, der inzwischen als Dozent im Militärinstitut der Inlandsstreitkräfte tätig ist.

Oberstleutnant Jermek Tusupschanow äußerte darin die Vermutung, der Inlandsgeheimdienst unterhalte mit unterschiedlichen Zielen Kontakte zu islamistischen Gruppen und sei in der Lage, diese auch in einer Situation wie bei den Januarprotesten zu aktivieren. Und wo solche nicht vorhanden seien, könnten im Zweifelsfalle auch Angehörige des KNB in deren Rolle schlüpfen.

Allgemein gilt die Preiserhöhung für Flüssiggas am 1. Januar als unmittelbarer Auslöser der Proteste; dass sie sich jedoch auf das ganze Land ausweiteten, schreibt Tusupschanow dem Umstand zu, dass die Staatsführung bis heute keine Schlussfolgerungen aus den Ereignissen in Schangaösen gezogen hat. 2011 wurden dort Dutzende streikende Ölarbeiter erschossen. Die gewerkschaftlich gut organisierten Belegschaften in der westlichen Region Mangghystau genießen in der kasachischen Bevölkerung wegen ihrer hartnäckig vorgebrachten sozialen Forderungen und Proteste hohes Ansehen. Dort begann auch der Protest im Januar mit sozialen, ökonomischen und politischen Forderungen, die über eine bloße Rücknahme der Preiserhöhungen hinausreichten. Menschen, die sich den Protesten in anderen Gebieten anschlossen, taten dies oft unter der Devise »Wir unterstützen Schangaösen«.

Vorerst haben die kasachischen Behörden die Situation unter Kontrolle. Sowohl gegenüber China, wo im Februar die olympischen Winterspiele beginnen sollen, als auch Russland, das derzeit an der Grenze zur Ukraine seine Truppenpräsenz enorm erhöht und seine Kräfte mit denen der USA und der Nato misst, kann sich Toqajew wieder als zuverlässiger Nachbar präsentieren.