30.11.2023
Über die Wiederkehr des Antiimperalismus im Postkolonialismus

Agitprop mit akademischem Antlitz

Wie der Antiimperialismus im Gewand des Postkolonialismus wiederkehrt.

Auf das Erschrecken über die Bru­talität des antisemitischen Massenmords folgt das Erschrecken über den weltweiten Umgang damit. Der überwiegende Anteil der antiisrae­lischen Mobs auf den Straßen europäischer und nordamerikanischer Großstädte scheint sich längst von der politischen Wirklichkeit emanzipiert zu haben und für Erfahrungen nicht mehr empfänglich zu sein. Erkennbar ist das daran, dass der kollektive Mordrausch der Hamas bei den Unterstützern der palästinensischen Sache paradoxerweise keine Distanzierung von den Jihadisten bewirkt hat; vielmehr scheint es so, dass die Zusammenrottungen auf den Straßen den Kampf der Hamas gegen Israel legitimieren, wenn nicht gar feiern.

Der notorische Hinweis darauf, dass nicht jede Kritik an Israel antisemitisch sei, vernebelt dabei nur die Tatsache, dass sich der Antisemitismus global betrachtet heute vor allem in Form von Israelkritik zeigt. Kennzeichnend für eine übersteigerte Feindseligkeit gegenüber Israel sind die Entkoppelung der Boden­offensive der IDF vom kriegsauslösenden Ereignis am 7. Oktober, die Androhung genozidaler Gewalt (»Tod, Tod Israel«) und die reflexionsfreie Projektion alles Bösen auf den Judenstaat (»Völkermörder«, »Kindermörder«). In der Phantasmagorie, Israel verübe einen Genozid an den Palästinensern, verschafft sich eine gegen Juden gerichtete genozidale Gewaltphantasie Geltung. Israel als Brückenkopf eines vom »Westen« gesteuerten kolonial-rassistischen Imperialismus darzustellen, ist das Anliegen derjenigen, die nicht darüber reden wollen, dass die Hamas die Schuld an der Eskalation trägt. Denn den meisten Feinden des Judenstaats ist nicht an einer Kritik der israelischen Politik gelegen, sondern daran, Israel als jenen Staat, der jüdische Souverä­nität garantiert, für illegitim zu erklären. Ziel ist die Auslöschung des Staates Israel.

Von alarmierender Aktualität ist daher Jean Amérys Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1976, weil er darin die Variabilität der Erscheinungsformen ewig gleicher Ressentiments kenntlich macht: »Der Antisemit will (…) im Juden das radikal Böse sehen: und da ist ihm ein im fürstlichen Dienste stehender Zinswucherer als Haßobjekt ebenso recht wie ein ­israelischer General. Dem Antisemiten ist der Jude ein Wegwurf, wie immer er es anstelle: Ist er, gezwungenermaßen, Handelsmann, wird er zum Blutsauger. Ist er Intellektueller, dann steht er als diabolischer Zer­setzer der bestehenden Weltordnung da. Als Bauer ist er Kolonialist, als Soldat grausamer Oppressor. Zeigt er sich zur Assimilation (…) bereit, ist er dem Antisemiten ein ehrvergessener Eindringling; verlangt es ihn nach ­jener (…) ›nationalen Identität‹, nennt man ihn einen Rassisten.«

Die Islamisten machen keinen Hehl daraus, dass die Auslöschung des jüdischen Staates, an dessen Stelle das Kalifat entstehen soll, nur der Anfang ist und andere westliche Demokratien folgen müssten. Als gar nicht mal heimlicher Verbündeter des islamistischen Mobs muss Putin gelten.

Dabei machen die Islamisten keinen Hehl daraus, dass die Auslöschung des jüdischen Staates, an dessen Stelle das Kalifat entstehen soll, nur der Anfang ist und andere westliche Demokratien folgen müssten. Als gar nicht mal heimlicher Verbündeter des islamistischen Mobs muss Putin gelten. Nicht zuletzt zeichnet sich vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine das Drängen einer antiwestlichen Strömung auf eine weltpolitische Neuordnung ab. Was die Semantik postkolonialer Theorie und russländischer Doktrin eint, ist ihre obses­sive Feindschaft gegen »den Westen« und alles, was mit diesem assoziiert wird. Es ist durchaus folgerichtig, dass der Putinismus über eine erstaunlich ähnliche Weltanschauung verfügt wie diejenigen, die im Namen des sogenannten Globalen Südens gegen alles »Westliche« kämpfen. Was beide Sichtweisen verbindet, ist eine nahezu identische Deutung des Zweiten Weltkriegs und deren Übertragung auf das historisch-politische Verständnis der Gegenwart.

Dieses Geschichtsbild ist dadurch gekennzeichnet, dass die Sicht auf den Nationalsozialismus sowohl im Putinismus als auch im Postkolo­nialismus bis heute primär durch ein kolonial-imperiales Paradigma bestimmt wird, das dem »Westen« genuin entsprungen sei und – als habe es nie eine Dekolonisierung gegeben – bis in die Gegenwart fortwirke. Dies geht mit der Überzeugung einher, der Westen sei sui generis kolonialistisch, rassistisch und imperialistisch. Hinzu kommt, dass der Putinismus und der Postkolonialismus insofern programmatische Überschneidungen aufweisen, als sie sich beide in einem Zustand quälender Ambiguität im Verhältnis zum Westen be­finden: Die Ambiguität leitet sich aus einem starken Kränkungsgefühl her, das dadurch ausgelöst wird, dem Westen (insbesondere den USA) ökonomisch unterlegen zu sein, gleichzeitig aber moralische Überlegenheit über den Westen zu beanspruchen.

Mit als Theorie bemänteltem Agitprop wird indessen das verstaubte Weltbild des Antiimperialismus durch Ideologeme des Postkolonialismus restauriert. Der Zwergstaat Israel ist dabei zu der vielleicht wirkmächtigsten Projektionsfläche für Anhänger dieses bipolaren Weltbilds geworden, ermöglicht es doch, Gewalt zu legitimieren und Israel einen ­Kolonialcharakter anzudichten. Dieser mache den Zionismus wiederum wesensgleich mit dem Nationalsozialismus. So wird Israel zum »Kristallisationspunkt eines neuen Antisemitismus, der sich gleichwohl teils als antirassistisch und anti­kolonialistisch versteht«, so der österreichische Schriftsteller Doron Ra­binovici.

Was die Semantik postkolonialer Theorie und russländischer Doktrin eint, ist ihre obsessive Feindschaft gegen »den Westen« und alles, was mit diesem assoziiert wird.

Gewiss gab es seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine ­Kolonisierung auf einem bestimmten Gebiet im Osmanischen Reich, das damals dünn besiedelt war und überwiegend von Zionisten Palästina genannt wurde. Jedoch hat deren Kolonisierung nichts mit dem heutigen Verständnis von Kolonialismus gemeinsam: Die ersten Zionisten besetzten nicht etwa das Land, sondern erwarben es käuflich auf legale Weise. Sie knechteten nicht die einheimische Bevölkerung dieser Region. Sie wanderten nicht ein, weil sie von einem Mutterland dazu aufgefordert wurden, sondern beabsichtigten lange vor der Shoah die Neugründung einer nationalen Schutz- und Heimstätte. Sie handelten nicht aus wirtschaftlichen Interessen, sondern reagierten auf die Pogrome im Zarenreich und das Scheitern der Emanzipationsversprechen in Mittel- und Westeuropa. Das Hauptmerkmal des Kolonialismus, das der Historikerin Franziska Krah zufolge im Ziel der Ausbeutung an Ort und Stelle besteht, fehlt dem Zionismus.

Solcher Unterscheidungen unterschlagen die Anhänger des Postkolonialismus. Edward Saids an Mani­feste erinnernde Schriften deuten den Zionismus zum Kolonialismus um: »Was auch immer der Zionismus für die Juden getan haben mag, er betrachtete Palästina im Wesentlichen wie die europäischen Imperialisten, als ein leeres Gebiet, das paradoxerweise mit unedlen oder vielleicht ­sogar entbehrlichen Einheimischen ›gefüllt‹ war; (…) darüber hinaus ­akzeptierte der Zionismus bei der Formulierung des Konzepts einer ­jüdischen Nation, die ihr eigenes Territorium ›zurückerobert‹, nicht nur die allgemeinen Rassenkonzepte der europäischen Kultur, sondern stützte sich auch auf die Tatsache, dass Palästina tatsächlich nicht von einem fortgeschrittenen, sondern von einem rückständigen Volk bevölkert war, über das es herrschen sollte«, schreibt Said in »The Question of Palestine« 1979.

Eine ähnliche Schablone bemüht Putin, wenn er, wie am 13. Oktober geschehen, die israelische Militäraktion in Gaza mit der von der Wehrmacht verübten Leningrader Blockade vergleicht. Putins übergeordnetes Ziel, die Zerschlagung der Ukraine, will er bekanntlich als »Entnazifizierung« verstanden wissen, weil »der kollektive Westen«, so Putin am 7. Juli 2022, »einen Genozid an den Menschen im Donbass befeuert und gerechtfertigt hat«. Dazu passt die Aussage seines Außenministers Sergej Lawrow, der auf die Frage, wie es eine Nazifizierung der Ukraine geben könne, wenn deren Präsident doch Jude sei, am 1. Mai 2022 erklärt hatte: »Ich kann mich irren. Aber Adolf Hitler hatte auch jüdisches Blut. Das heißt überhaupt nichts. Das weise jüdische Volk sagt, dass die eifrigsten Anti­semiten in der Regel Juden sind.« Die Aussage Lawrows ist nicht nur wegen der Anspielung auf die »Protokolle der Weisen von Zion« gravierend, sondern auch, weil er Selenskyj mit ­Hitler vergleicht, weil er Hitler judaisiert und der Meinung ist, dass hinter dem Antisemitismus überwiegend Juden stecken. Keine Absurdität kann groß genug sein, solange sie sich nur gegen Juden richtet.