Nabelschau

Von Gänsen und Gurken

Wenn eine »Jungle World«-Redaktion eine Reise tut, kann sie was erleben.

Auf drei Wohnungen verteilte sich die Redaktion Ihrer Lieblingszeitung in Warschau. Sich in einer von ihnen zu treffen, brachte zunächst unvermutete Schwierigkeiten mit sich. Wo und wie klingeln, wenn es keine Klingelknöpfe mit Namensschildern gibt, sondern nur eine Nummerntafel für den Türcode? Einfach die Wohnungsnummer eintippen war des Rätsels Lösung, aber darauf muss man ja auch erst mal kommen. Tja, fremde Länder, fremde Sitten, aber kein unüberwindliches Problem für auslandserfahrene Redakteurinnen und Redakteure, die alljährlich auf Grundlage umfangreicher Recherchen eine Auslandsausgabe produzieren.

Denkmal für den Warschauer Ghettoaufstand

Denkmal für den Warschauer Ghettoaufstand

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Urbane Geschichtspolitik
Zwei unserer drei Wohnungen liegen auf dem Gebiet des ehemaligen Warschauer Ghettos. In den Gehwegen eingelassene, beschriftete Metallschienen zeigen an, wo die Mauern des Ghettos verliefen. Hier und da gibt es Gedenktafeln, die an den Aufstand im Ghetto erinnern, und das Mahnmal vor dem Polin-Museum, das auch den jüdischen Alltag in Polen darstellt, wurde ebenfalls zum Gedenken an den bewaffneten jüdischen Widerstand errichtet. Befremdlich ist allerdings ein anderes Mahnmal unweit davon, mitten im ehemaligen Ghetto: ein stilisierter Eisenbahnwagen voller Kreuze am Ende einer langen Reihe von Bahnschwellen. Auf Tafeln wird über den jahrzehntelang währenden sowjetischen »Völkermord« an Polinnen und Polen von 1917 bis 1989 schwadroniert.

Besuch bei Krytika

Besuch bei Krytika

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Altstadtkulisse und Gurken
Die dritte Wohnung liegt im historischen Zentrum der Stadt: nahe dem Markt der Warschauer Altstadt. So richtig historisch ist die Altstadt allerdings auch wieder nicht. Nach der fast völligen Zerstörung durch die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg 1944 wurde sie zwischen 1949 und 1955 weitgehend originalgetreu wiederaufgebaut. Bei Touristen beliebt, ähnelt sie heute mehr einer Kulisse als einem urbanen Zentrum. Zum Leidwesen einiger ziehen solche Orte immer auch Straßenmusiker an, auch vor einer unserer Wohnungen: Von zwölf Uhr mittags bis abends um acht beglückt ein besonders begabter Musiker unsere Redaktion. Sein Repertoire besteht aus genau zwei Stücken, die jeweils etwa eine halbe Minute dauern, und von unserem Troubadix-Nachfahren mit Freude den ganzen Tag, zehn Tage am Stück, wiederholt werden. Im ersten Lied besingt er Gurken und im zweiten stellt er die höchst philosophische Frage, was der Papa gesagt hat. Für die Redaktion bedeutet das: Arbeiten unter höchster Nervenbelastung.

Cool and the Gang

Cool and the Gang

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Praga und seine Hinterhöfe
Als »alt« kann wohl eher der Bezirk Praga bezeichnet werden. Da er im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurde, gilt er heute als der authentischste Bezirk der Stadt. Während des Realsozialismus versteckten sich die Gläubigen in den Hinterhöfen zum Beten. Dort sind deshalb noch immer Kapellen und Marienstatuen zu entdecken. Allerdings sollte man vorsichtig sein, in welchen Hinterhof man geht. Ortsansässige warnen uns vor dem Bezirk. Es sei der gefährlichste Stadtteil Warschaus. In bestimmten Straßen werden in den Hinterhöfen Drogen vertickt. Wer das Passwort nicht kennt, bekommt keinen Zugang. Ein Kollektivmitglied, wagemutig wie es ist, hat sich dennoch an einem der bulligen Typen vorbeischleichen können, wurde allerdings wieder des Platzes verwiesen.

Vor den Hinterhöfen des Bezirks Praga

Vor den Hinterhöfen des Bezirks Praga

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Piwo und Piroggen
Will man sich laben nach den anstrengenden Recherchen, liegt der Griff zum Getränk nah. Das lokale Bier aka Piwo ist super, eher gewöhnungsbedürftig sind die mit allerlei Ingredienzien versetzten Wodkasorten: mit Kirschen beispielsweise, was einen süßen Likör ergibt – Kopfschmerz in Flaschen. Wie in aller Welt gibt es auch in Polen eine Art Maultaschen, die einem als kulinarisches nationales Kulturerbe verkauft werden. Hier sind sie als Pierogi bekannt und gefüllt unter anderem mit Kartoffeln, Sauerkraut oder Fleisch.

Redaktionsvöllerei

Redaktionsvöllerei

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Pipa
Polen befindet sich im Gänsefieber. Alles redet von Pipa. Und die Redaktion ihrer Lieblingszeitung lässt sich anstecken. Überall gibt es die Gans in unzähligen Plüschvarianten zu kaufen. Prominent gemacht hat die Gans ein Tiktoker und seitdem ist sie nicht mehr aus dem Stadtbild wegzudenken. Nicht jede Gans Warschaus ist allerdings so plüschig süß und handzahm wie Pipa. Ein Redakteur musste während eines Interviews im Autonomen Zentrum mit Gänsen der anderen Art Bekanntschaft machen. Die beiden langhalsigen Zweipaddler versperrten ihm nicht nur den Ausgang, sondern versuchten, ihn außerdem noch zu beißen. Gans sei Dank ist nichts Schlimmes passiert.

Pipa

Polen befindet sich im Gänsefieber

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