Der kleine Unterschied zwischen dem Verborgenen und dem Unsichtbaren

Komm und sieh

Sprachkolumne. Die Welt verbessern will heute niemand mehr. Alle wollen irgendwas sichtbar machen.
Das letzte Wort Von

Dem kritischen Denken wird seit einiger Zeit die Aufgabe zugesprochen, Dinge »sichtbar zu machen«. Im Dienst der ophthalmologisch benachteiligten Massen, die ersehnen, dass ihnen jemand ein inneres Augenlicht aufstecke, sind die Intellektuellen von heute keine Weltverbesserer mehr, sondern Sichtbarmacher.

Bücher und Online-Publikationen mit den entsprechenden Stichwörtern im Titel findet man im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek zuhauf. Mit Stand vom August 2023 beanspruchen mindestens sieben Bücher und zehn online publizierte Texte im Titel, »das Unsichtbare« sichtbar zu machen, was freilich redundant ist, denn was sonst könnte man sichtbar machen? Gemeint sind mal »Höhen und Tiefen im Leben mit Typ-1-Diabetes«, mal »pflegende Angehörige«, »Bildungsprozesse und Subjektgenese« oder »biopsychosoziale Zusammenhänge« – wer wollte nicht wissen, wie die so aussehen? Als unsichtbar gelten ferner die österreichische Pflegequalität oder türkische Stadtentwicklungsprozesse. Auch »der überirdische Raum« und »die unsichtbare Hand« werden der Sichtbarkeit zugeführt.

Ein Titel fragt mit einem Hauch von Verzweiflung: »Pflegeleistungen sichtbar machen – aber womit?«

Andere Titel verraten direkt, was sie »sichtbar machen« wollen – unter anderem Gefühle, Gedanken, Wissen, Unbewusstes, Erinnerung, Verstehen, Begabungen, Vorbilder, Wirkungen, Spuren, Mathematik, Krebs, Arbeit, Haltung, Expertise, Engagement, Krisen, Diversität, Mutterschaften, Kommunikation, gelingende Kommunikation, Hierarchien, Gefahren, Forschungsdaten, Akademisierung, Tierseelen, Lernen, mobiles Lernen, Lernprozesse, Lehren und Lernen, gute Lehre, gegenstandsspezifische Lernprozesse von Lehrkräften, informell erworbene Kompetenzen, Hospiz-Quailtät, Qualitäten des Tempelhofer Feldes, Problemlöseprozesse, Klippen in Problemlöseprozessen, Bewegung im Krankenhaus, die Notwendigkeit der Kinderradiologie, klimainduzierte Bewegungen, komplexe Strukturen, dentale Schönheit, die gläserne Decke, Verwundbarkeiten von marginalisierten Gruppen und Personen, Digitalisierung in der beruflichen Weiterbildung, Gott in deiner Welt, lokale urbane Welten, Ungleichheit in Europa, die afrikanische Perspektive (es gibt offenbar nur eine) oder auch Afrika selbst.

Dass dieser Kontinent, von Wakanda einmal abgesehen, unsichtbar sein soll, überrascht freilich: Europäische Kolonisatoren berichteten von keinen größeren Schwierigkeiten, ihn zu finden. Umgekehrt lässt sich eine Perspektive so wenig sichtbar machen wie das Sehen als solches. Ein Leitfaden »Logik sichtbar machen« ist offenbar ein Desiderat.

Ein Titel fragt mit einem Hauch von Verzweiflung: »Pflegeleistungen sichtbar machen – aber womit?«, ein anderer forscht nach »Möglichkeiten, durch Public Anthropology Rassismus in postkolonialen Bezügen sichtbar zu machen«. Wer oder was sich postkolonial worauf bezieht oder ob eventuell gemeint ist, dass Rassismus in Postkolonialität gehüllt wird wie eine Bettdecke in ihren Bezug, macht der Titel nicht sichtbar.

Linke haben sich vor allem der Aufgabe verschrieben, unterdrückten Minderheiten zu der ihnen zustehenden Sichtbarkeit zu verhelfen. Das ist sicher gut gemeint, doch bevor die post- und postpostmoderne Verblödung um sich griff und Likes auf Social Media zum Inbegriff menschlichen Glücks wurden, wusste man noch um die Vorteile der Unsichtbarkeit, die Schutz vor Entdeckung, Überwachung und sozialer Kontrolle bietet. Dem Gerede, Homosexualität sei in gewissen Ländern unsichtbar, könnten die dort von Verfolgung bedrohten Schwulen entgegenhalten, dass sich etwa ein Kiss-in an einem belebten Ort als nur allzu sichtbar erweisen würde.

Man sollte es nicht für nötig halten, darauf hinzuweisen, aber etwas zu verbergen, ist etwas völlig anderes, als es unsichtbar zu machen. Auch auf das, was verdrängt wird oder keine Aufmerksamkeit findet, passt die Metapher nicht, denn unsichtbar ist nur, was sich auch dann nicht sehen lässt, wenn man hinschaut. Wer morgens die Augen aufschlägt, macht schließlich nicht das Schlafzimmer sichtbar.