Der kürzlich verstorbene ukrainische Ökonom Oleksandr Krawtschuk forderte einen Schuldenschnitt für das kriegsgeplagte Land

Die Ukraine steht vor dem Ruin

Die russische Invasion hat die Wirtschaft der Ukraine zerstört und die Armut erheblich verschärft. Der im Juli verstorbene Ökonom Oleksandr Krawtschuk analysierte die strukturellen Probleme der ukrainischen Wirtschaft und forderte einen Schuldenschnitt für das Land, um einen Wiederaufbau zu ermöglichen.

Auch ökonomisch richtet die russische Invasion in der Ukraine Verheerungen an. Im vergangenen Jahr brach die Wirtschaftsleistung um knapp 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr ein. Die ukrai­nische Zentralbank schätzt die derzei­tige Arbeitslosenquote auf 26 Prozent.

Dem Geldinstitut zufolge hat der ukrainische Staat im ersten Halbjahr dieses Jahres 24,5 Milliarden Euro an Krediten und Hilfsgeldern aus dem Ausland erhalten. So konnte der Verfall der Währung, des Hrywnja, vorerst aufgehalten werden, die Inflationsrate ist von 26 Prozent zu Jahresbeginn auf 12,6 Prozent im Juni gefallen. Waren des täglichen Bedarfs können aus der EU importiert werden und humanitäre Organisationen arbeiten im Land. So wirkt die wirtschaftliche Lage derzeit einigermaßen stabil.

Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die tiefgreifende Verarmung weiter Teile der Bevölkerung und die langfristigen Kosten des Wiederaufbaus betrachtet. Weltbank, UN, EU und die ukrainische Regierung schätzen aus­gehend von der Zerstörung nur im ersten Kriegsjahr, dass die Kosten für den Wiederaufbau 383 Milliarden Euro in zehn Jahren betragen werden – 2,6 mal so viel wie das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine im Jahr 2021.

Stagnation, Armut und hohe Staatsschulden
Die russische Invasion ist auch eine Kriegsführung gegen die ökonomischen Grundlagen der ukrainischen Gesellschaft. Dazu gehörte der systematische Beschuss der Energieinfrastruktur im vergangenen Winter ebenso wie die seit Juli wieder umfassende Seeblockade und der Beschuss ukrainischer Häfen am Schwarzen Meer und der Donau. Städte sind zerstört, Fabriken stillgelegt, Millionen Menschen binnenvertrieben und ganze Landstriche vermint.

Bedrohlich für das wirtschaftliche Überleben der Ukraine ist das auch deshalb, weil das Land bereits vor der Invasion in ökonomischen Schwierigkeiten steckte. In der Peripherie der EU gelegen, war die ukrainische Wirtschaft geprägt von Stagnation, Armut und hohen Staatsschulden.

Die Gründe für die anhaltende Sta­gnation der ukrainischen Wirtschaft waren eines der bestimmenden Themen des im Juli verstorbenen ukrainischen Ökonomen Oleksandr Krawtschuk. Krawtschuk, der als Lokführer arbeitete, bevor er in Wirtschaftswissenschaft promovierte, schrieb zahlreiche Artikel und brachte Bücher heraus, die sich kritisch mit der ukrainischen Ökonomie und Wirtschaftspolitik beschäftigten, und war viele Jahre lang leitender Redakteur von Spilne/Commons, einer Zeitschrift für Ökonomiekritik.

»Die Ukraine war der am weitesten nördlich gelegene Teil des Globalen Süden und rivalisierte mit Moldawien um die Stellung als das ärmste Land Europas«, beschrieb er unmittelbar nach Beginn des russischen Einmarschs in einem Interview mit dem sozialistischen Magazin Jacobin die Stellung der Ukraine in der Weltwirtschaft. Er meinte damit nicht nur die Armut der ukrainischen Bevölkerung, sondern auch die Wirtschaftsstruktur, die diese Armut perpetuierte.

Weltbank, UN, EU und die ukrainische Regierung schätzen, dass die Kosten für den Wiederaufbau 383 Milliarden Euro in zehn Jahren betragen werden.

»In einer Reihe von scharfen Krisen, die die Ukraine seit 1991 durchlaufen hat, nahm die neue Struktur der ukrainischen Wirtschaft Form an – eine Struktur, die von exportorientierter Industrie und Low-Tech-Produktion bestimmt war«, resümierte er im Vorwort eines 2016 veröffentlichen Buchs. Statt in die Entwicklung des industriellen Potentials zu investieren, »haben die lokalen Eliten die zusehends verfallenden Kapitalgüter ausgebeutet und die Integration des Landes in den Weltmarkt als Anbieter von Rohstoffen und Ressourcen vorangetrieben. Die Ukraine wurde Geisel ihrer Stellung im Weltwirtschaftssystem.«

War die Ukraine in der Sowjetunion noch ein Zentrum der High-Tech-Industrie gewesen, auch im Raumfahrt- und Militärbereich, dominierte nach der Unabhängigkeit immer mehr der Export von Rohstoffen, Agrarprodukten sowie Grundstoffen aus der Metall- und Chemieindustrie. Von Ausnahmen wie einem IT-Sektor abgesehen, der sich in den vergangenen Jahren entwickelt hat, war die Industrie veraltet, ihre Produktivität stagnierte.

Hinzu kam, dass große Teile der erwirtschafteten Profite ins Ausland abflossen. Das Ergebnis war eine Nationalökonomie mit sehr niedrigen Gehältern – offiziellen Statistiken zufolge betrug das durchschnittliche Monatsgehalt vor der russischen Invasion unter 500 Euro monatlich – und einem dementsprechend schwachen Binnenmarkt. Aufgrund der Exportabhängigkeit war die Ukraine anfällig für Schwankungen in der Weltkonjunktur. Besonders seit Beginn des Kriegs 2014 wuchs auch die Staatsverschuldung stark an und schon 2021 entfielen 8,5 Prozent des staatlichen Budgets auf die Bedienung von Schulden.

Anhängsel des EU-Binnenmarktes
Wird in deutschen Medien über die wirtschaftspolitischen Probleme der Ukraine diskutiert, steht meist die Korruption im Vordergrund. Auch Krawtschuk beschäftige sich mit dem Abfluss von Kapital in Steueroasen oder westliche Staaten. Der konnte nicht unterbunden werden, »weil damit die Existenz einer ganzen Klasse von Profiteuren auf dem Spiel stände, die direkten Einfluss auf den politischen Prozess hat«. Doch die Ursachen der wirtschaftlichen Stagnation sah er weniger in der Korruption als in der Rolle der Ukraine in der Weltwirtschaft und den fehlenden Investitionen in produktivere Wirtschaftszweige.

Das EU-Assoziierungsabkommen, dessen Unterzeichnung Auslöser der Maidan-Proteste 2013/2014 waren, sah er deshalb auch kritisch. Positiven ­Aspekten wie der Bekämpfung von Korruption oder der Modernisierung der Verwaltung und des Rechtssystems stand das Risiko gegenüber, noch stärker als zuvor Anhängsel des EU-Binnenmarktes zu werden, auf dem ukrainische Industrieprodukte nicht konkurrenzfähig sein würden, wodurch sich die Stellung der Ukraine als Lieferant von Rohstoffen und Agrarprodukten sowie Arbeitskräften für die Staaten des Schengen-Raums festschriebe.

Als 2014 russische Truppen die Krim annektierten und im Donbass begannen, gegen die ukrainische Armee zu kämpfen, war das gegen die Westbindung der Ukraine gerichtet, beschleunigte jedoch paradoxerweise die Los­lösung der Ukraine aus dem russisch dominierten Wirtschaftsraum. Für die Ukraine bedeutete der Krieg, wie Krawtschuk analysierte, eine schwere Wirtschaftskrise und eine Beschleunigung der Deindustrialisierung. Der Krieg tobte gerade in den östlichen Industriegebieten und schnitt den von Bergbau und Schwerindustrie geprägten Donbass von der Ukraine ab. Hinzu kam, dass die Ukraine vor 2014 gerade komplexere Industrieprodukte wie Maschinen an Russland und Staaten der von ihm dominierten Eurasischen Wirtschaftsunion verkauft hatte und diese Absatzmärkte infolge des Krieges und russischer Sanktionen sowie Importsubstitution wegfielen.

Als Beispiel führte Krawtschuk den Lokomotivbau an. 2013 hatten Lokomotiven noch vier Prozent des gesamten ukrainischen Exports ausgemacht, drei Viertel davon gingen nach Russland. Mit Beginn des Krieges im Donbass brachen jedoch der Export und damit auch die Produktion von Loko­motiven in der Ukraine ein. Auch für andere Industrieprodukte gab es auf dem EU-Markt keine Nachfrage. Exporte in die EU nahmen ab 2014 zwar zu, doch handelte es sich vor allem um Rohstoffe oder Produkte mit niedriger Wertschöpfung. Die Folge war eine fortschreitende Deindustrialisierung der Ukrane.

Krawtschuk beteiligte sich gemeinsam mit ukrainischen Gewerkschaften und internationalen Unterstützern an einer Kampagne, die einen Schuldenschnitt für die Ukraine nach Kriegsende fordert.

All diese Probleme bestehen heute in noch viel extremerer Form. Krawtschuk gehörte zu einer Gruppe von Ökonomen, Gewerkschaftern und ­Linken, die kritisierten, dass die ukrainische Regierung auf die Wirtschaftskrise im Krieg mit Deregulierung und dem Abbau von sozialen und Arbeitsschutzrechten reagiert und versucht, Investoren mit dem Versprechen von Steuernachlässen und Subventionen ins Land zu locken. Die Regierung wird dabei nicht nur von wirtschaftsliberalen Ideen geleitet, sie nützt auch den Umstand aus, dass während des Krieges politischer Protest kaum möglich ist. Vor allem aber sieht sie offenbar angesichts der völligen Abhängigkeit von westlichen Geldgebern und zukünftigen Investoren keine anderen Mög­lichkeiten.

Kosten des Wiederaufbaus
Die westlichen Unterstützer der ­Ukraine, allen voran die USA und die EU, versichern zwar, die Ukraine auch langfristig beim Wiederaufbau zu unterstützen, aber insbesondere in den USA werden in der Republikanischen Partei nationalistische Töne lauter. Trump-Anhänger kritisieren, dass US-Steuergelder in die Ukraine fließen. Auch in der EU hat sich einerseits der Konsens durchgesetzt, dass die Ukraine auf Dauer an die Union angebunden werden müsse, doch sind, wie die Financial Times kürzlich berichtete, hinter den Kulissen längst Auseinandersetzungen darüber entbrannt, wie mit den sehr hohen Kosten dafür zu verfahren sei.

Krawtschuk beteiligte sich deshalb gemeinsam mit ukrainischen Gewerkschaften und internationalen Unterstützern an einer Kampagne, die einen Schuldenschnitt für die Ukraine nach Kriegsende fordert. Trotz der schweren Bedingungen setzte er auch im belagerten Kiew seine Arbeit an ökonomischen und sozialen Themen fort.

Oleksandr Krawtschuk

»Die Ukraine war der am weitesten nördlich gelegene Teil des Globalen Süden und rivalisierte mit Moldawien um die Stellung als das ärmste Land Europas.« Oleksandr Krawtschuk, hier 2015 bei einer Konferenz

Bild:
Center for Social and Labor Research, cslr.org

Im November vergangenen Jahres war ein persönliches Treffen für ein Gespräch mit der Jungle World über die soziale Krise in der Ukraine verabredet, doch wenige Stunden zuvor gab es einen Großangriff mit Drohnen und Raketen auf die Hauptstadt; der Strom fiel aus und die Züge fuhren nicht mehr. Im Dezember sollte das Interview per Internet nachgeholt werden, doch erneut kam dem ein Raketenangriff in die Quere, der zu stundenlangen Stromausfällen führte. So fand das Gespräch nie statt. Am 21. Juli starb Oleksandr Krawtschuk in Kiew.