04.01.2024
Konzerne sind bemüht, wieder mehr Produktionsschritte unter direkte Kontrolle zu bringen

Vertikal gewinnt

Outsourcing und komplexe Lieferketten können Kosten sparen – dennoch versuchen zahlreiche Konzerne nun immer stärker, möglichst viele Produktionsschritte selbst zu kontrollieren. Die sogenannte ­vertikale Integration ist eine Reaktion auf die kapitalistische Dauer­krise und weltpolitische Konflikte.

Am Anfang war der Elektroautokonzern Tesla – nicht nur als Pionier des öko­logischen Selbstbetrugs, den die kapitalistische Elektromobilität darstellt, sondern auch als Avantgarde einer neuen Organisationsstruktur, die derzeit in Reaktion auf die multiplen Krisenschübe allerorten Nachahmer und breite Anwendung findet. Das Tesla-Prinzip erlebte in der Covid-19-Pandemie seinen Durchbruch. Weil Tesla von der Herstellung zahlreicher Einzelteile bis zur Fertigung der Autos und deren Verkauf den Produktionsprozess weitestgehend selbst organisiert, konnte der Autokonzern die disruptiven Effekte der Pandemie, unter der vor allem stark globalisierte Industriesektoren wie der Autobau litten, minimieren.

Eine solche Strategie einer »vertikalen Integration« war bis vor kurzem unüblich; im neoliberalen Zeitalter dominierte das Streben der Konzerne nach »horizontaler Integration«. Tesla war hinsichtlich seiner Organisationsstruktur ein Außenseiter, womit er in der Pandemie jedoch das große Los gezogen hatte.

Unter horizontaler Integration versteht die Ökonomie Geschäftsstrategien, die darauf abzielen, den Marktanteil durch Übernahmen von Konkurrenten zu erhöhen. Mit höherem Marktanteil wird der Konkurrenzdruck reduziert, es werden neue Märkte erschlossen, die Verhandlungsposition in den globalen Lieferketten wird gestärkt. Das Ende und Ziel aller Marktkonkurrenz ist das Monopol, wie es etwa Microsoft im Segment der Computerbetriebssysteme errungen hat.

In der Ära der Globalisierung ging das Streben des Kapitals nach »horizontaler« Marktdominanz mit der Tendenz zum Outsourcing einher.

In der Ära der Globalisierung ging das Streben des Kapitals nach »horizontaler« Marktdominanz mit der Tendenz zum Outsourcing einher, dem Abstoßen von Unternehmensbereichen, die nicht zum Kerngeschäft gehörten. Hierbei wurden arbeitsintensive, umweltschädliche oder wenig lukrative Bereiche oder Fertigungsschritte (Vorprodukte, Komponenten, Dienstleistungen) an formell oder reell unabhängige Fremdunternehmen ausgelagert, die oft in Billiglohnländern angesiedelt waren. Das ging zumeist mit Entlassungswellen in den Zentren einher. Letztlich basierte das renditesteigernde Outsourcing auf einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, auf einer Absenkung der Kosten der Ware Arbeitskraft als des »variablen Kapitals« (Marx) im Verwertungsprozess.

In der Ära der Globalisierung entstanden auf diese Weise unüberschaubare und weitverzweigte globale Produktions- und Lieferketten, die es horizontal integrierten Konzernen in den Zentren des Weltsystems ermöglichten, ihre Marktmacht gegenüber einer ­unüberschaubaren Zahl von Zulieferern in der Peripherie – wo die Ausbeutung weiterhin frühkapitalistische Züge trägt – auszuspielen.

Tesla als Modell der vertikalen Integration

Vertikale Integration bildete im globalisierten Neoliberalismus hingegen eine Ausnahmeerscheinung, denn dabei wird der entgegengesetzte Weg eingeschlagen: Ein Konzern ist bemüht, die direkte Kontrolle über die Lieferkette und den gesamten Produktions- und Distributionsprozess zu erlangen.
Tesla stellt Batterien, Steuerungssoftware, Autositze und Elektromotoren konzernintern her. In der Pandemie, als die Containerschifffahrt zeitweise zum Erliegen kam und in zahlreichen Ländern Fabriken schließen mussten, wodurch andernorts Komponenten fehlten, zahlte sich das aus. Während der Lieferengpässe im Pandemiejahr 2021 konnte Tesla – Konzernleiter Elon Musk zufolge ein »absurd stark vertikal integrierter Konzern« – seinen Absatz um 87 Prozent steigern.

Andere Autohersteller wie General Motors (GM) hat das zur Nachahmung bewegt. GM ist nicht nur dabei, Batteriefabriken für seine Elektrofahrzeuge in den USA zu errichten, der Konzern sichert sich auch exklusiven Zugang zur Rohstoffgewinnung in Quebec (aktives Kathodenmaterial) und Südkalifornien (Lithium). Ford – historisch gesehen ein Pionier vertikaler Integration – baute ebenfalls ein eigenes Werk für Elektromotoren auf, während deutsche Hersteller, die Akkufabriken in Europa oft in Joint Ventures aufbauen, sich vor allem bemühen, die Software­produktion unter dem eigenen Konzerndach zu reintegrieren.

Noch in den siebziger Jahren fertigten PKW-Hersteller im Schnitt 90 Prozent ihrer Fahrzeuge selbst, in den vergangenen Jahren betrug dieser Eigenanteil nur noch 50 Prozent. Diese Dynamik kehrt sich jetzt wieder um, nicht nur in der Autoindustrie. Auch Markenhersteller, beispielsweise von Konsumgütern wie Kleidung, bemühen sich um Vertikalisierung, indem sie durch den Aufbau eigener Läden oder eines Online-Vertriebs den Einzelhandel immer mehr ausschalten.

Aber auch Einzelhandelskonzerne gehen zur Strategie vertikaler Integration über, wie es bislang vor allem deutsche Discounter wie Lidl mit ihren billigen Eigenmarken praktiziert haben. Edeka kaufte Brot- und Pastafabriken, die Rewe Group erwarb im März 2023 eine Großfleischerei. Diese große Übernahmewelle im Einzelhandel zielt auf die Absicherung der Lieferketten. Ähnliches vollzieht sich in den USA, wo der Einzelhandelskonzern Walmart Hunderte Millionen US-Dollar investiert, um eine eigene Rindfleischlieferkette aufzubauen.

Vertikale Integration als Krisenstrategie

Die ökologischen und geopolitischen Disruptionen des hochglobalisierten Weltmarkts, die durch die sozioökologische Krise des Kapitals an Häufigkeit und Schwere zunehmen, machen solche Krisenstrategien notwendig – denn darum handelt es sich bei der vertikalen Integration. Das britische Magazin The Economist beschrieb schon Mitte 2022, wie zunehmende Spannungen und Erschütterungen (Pandemie und Ukraine-Krieg) die globalisierten Lieferketten belasteten und einen grundlegenden Wandel einleiteten, da Entscheidungsträger in Konzernzentralen immer mehr darauf achteten, »nicht nur effiziente, sondern auch robuste Lieferketten« zu haben.

Dabei kämen neben der vertikalen Integration noch andere Strategien zur Anwendung, beispielsweise die, wieder größere Lager­kapazitäten aufzubauen, also Rohstoffe und Bauteile zu horten, oder die, Produktionsstandorte in mehreren Weltregionen aufzubauen, um regionale Krisen abfedern zu können. Ähnliches gelte für die Tendenz zum Abschluss langfristiger Verträge mit mehreren Rohstofflieferanten.

Der Trend zur vertikalen Integration bildet somit – ähnlich dem zum Near­shoring – ein Teilmoment eines umfassenden Wandels der globalen Produktions- und Handelsstruktur, der einer krisenbedingt einsetzenden Deglobalisierung gleichkommt.

Vor allem mit der vertikalen Integration reproduziert das Kapital heutzutage ein industrielles Organisationsmodell, das in der Endphase des real existierenden Sozialismus weitverbreitet war: das industrielle Kombinat. Es beruhte auf der aus der Not geborenen Idee, möglichst viele Vorprodukte in einem Unternehmen herzustellen, um den allgegenwärtigen Versorgungsproblemen im Staatssozialismus zu begegnen. Denn niemand traute seinen Lieferanten, Lieferengpässe stellen einen Dauerzustand dar.

Das Siechtum des osteuropäischen Staatskapitalismus sowjetischer Prägung spiegelt sich in der derzeitigen Krise der westlichen Zentren des Weltsystems.

Der Drang zum Horten und zur vertikalen Integration diente der Mangelverwaltung, wie sie der osteuropäische Staatskapitalismus in der Phase seines stagnativen Siechtums praktizierte. Dies gilt auch für den ebenfalls wieder beliebten Aufbau von Lagerkapazitäten, die in der Ära neoliberaler Globalisierung mit ihrer Just-in-time-Produktion oftmals auf die Straßen und Verkehrswege ausgelagert worden sind. Im real existierenden Staatskapitalismus bemühten sich alle Unternehmen um möglichst große Bestände an Rohstoffen und Komponenten, um für Lieferengpässe gewappnet zu sein, was den allgemeinen Mangel nur vergrößerte.

Miniaturkopie der sowjetischen Industriestruktur

Die derzeitige Regionalisierung von Förder- und Produktionskapazitäten von Großkonzernen hat ebenfalls eine Entsprechung im Staatskapitalismus des sogenannten Ostblocks: All diese Volkswirtschaften bildeten eine Miniaturkopie der sowjetischen Industriestruktur aus, da die internationale Arbeitsteilung, die mit einer Spezialisierung auf einzelne Industriezweige und Sektoren einhergegangen wäre, zwischen den Mitgliedern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) schlicht nicht funktionierte. Die internationale Verflechtung der Volkswirtschaften im »internationalistischen« Ostblock war in dessen Niedergangsphase niedriger als im Westen.

Das Siechtum des osteuropäischen Staatskapitalismus sowjetischer Prägung spiegelt sich somit in der derzeitigen Krise der westlichen Zentren des Weltsystems. Vertikale Integration, der Unterhalt größerer Lagerkapazi­täten, der parallele Aufbau mehrerer regionaler Produktionsstätten für dasselbe (Vor-)Produkt, langfristige, unflexible Lieferverträge – all diese Maßnahmen lassen die Kosten und letztlich die Preise der entsprechenden Waren steigen. Somit dürften diese Strategien spätkapitalistischer Krisenanpassung einen weiteren Faktor bilden, der die allgemeine Inflation anheizt, da die Kosten immer auf die Lohnabhängigen abgewälzt werden.