Die »Foto Wien« zeigt Kriegsfotografie aus der Ukraine

Vermeintliche Lügen

Das im Juni veranstaltete Festival Foto Wien fragte in diesem Jahr nach dem Wahrheitsgehalt der Fotografie. Besonderes Augenmerk galt dabei der Kriegsfotografie – vor allem der aus der Ukraine.

Albertina, Baden in der Donau, Kaffeehaus, Käsekrainer, Kaiserschmarrn, Wiener Oper – damit lockte die österreichische Hauptstadt schon lange, für die Fotografie fuhr man bisher jedoch eher seltener hin. Zwar beherbergen einige Institutionen großartige fotografische Sammlungen, es gibt Galerien, die sich ausschließlich diesem Medium widmen, Jahr um Jahr werden zahlreiche neue Fotografen wie beispielsweise an der renommierten Friedl-Kubelka-Schule ausgebildet, aber zu einem Zen­trum der internationalen Fotografieszene wie Arles oder Paris ist Wien bisher nicht aufgestiegen. Mit der Foto Wien 2023 könnte sich dies jedoch ändern.

Das Fotofestival, das in diesem Jahr sein zehnjähriges Jubiläum feierte, ist eng verzahnt mit der erst im vergangenen Jahr ins Leben gerufenen Foto-Arsenal Wien, einer neuen Institution für fotografische Bilder, dessen künstlerischer Leiter Felix Hoffmann ist. Der ehemalige Hauptkurator von C/O Berlin betrachtet die Fotografie als mediale Brücke, weil sie allgegenwärtig ist. Und Brücken wolle er auch mit seinem Team vom temporären Sitz im Museumsquartier in die Stadt, in andere Einrichtungen schlagen, betonte Hoffmann auf der Pressekonferenz des Fotofestivals. Es scheint, als wäre einmal die Reset-Taste gedrückt worden – nur: Ist das Ganze tatsächlich so neu?

Mit weiteren Kultureinrichtungen zu kooperieren und wichtige Stimmen der Branche einzuladen, ist jedenfalls eine gängige Vorgehensweise von Festivals und wurde bereits in früheren Ausgaben der Foto Wien angestrebt. Auch der Titel »Photography Lies. Die Lügen der Fotografie« scheint eher alte Diskurse wiederaufflammen zu lassen als neuere voranzutreiben. Die Frage nach dem Wahrheits­gehalt der Fotografie wirkt sogar etwas überkommen.

Die Fotowissenschaft hat mittlerweile gezeigt, dass Wahrheit und Lüge in der Fotografie weniger eine Dichotomie bilden als vielmehr koexistieren.

Die Fotowissenschaft hat mittlerweile gezeigt, dass Wahrheit und Lüge in der Fotografie weniger eine Dichotomie bilden als vielmehr koexistieren. Und dennoch versetzt es Bildbetrachter immer wieder in Rage, wenn durch einen angeblichen Enthüllungsakt – sei es durch die Erweiterung eines Bildausschnitts oder das Aufzeigen der initialen Bildunterschrift, des eigentlichen Kontexts – die eigentliche beziehungsweise eine andere Wahrheit gezeigt wird. Dieses Faszinosum hat bis heute seine Wirkungsmacht nicht verloren. Durch die technischen Veränderungen des Apparats und der Bildbearbeitungsmöglichkeiten, durch die immer schneller verlaufenden Distribution und Zirkulation stellt sich die Frage immer wieder neu beziehungsweise wird der Vorwurf an die Fotografie immer wieder aufs Neue erhoben: Sie lügt!

Der Fotohistoriker Anton Holzer erklärt das medienimmanente Pro­blem in seinem Essay »Medienbilder zwischen Wahrheit und Fake« so: »Solange Ängste, Gerüchte und Verschwörungstheorien blühen, zirkulieren auch Bilder, die lügen. Denn sie werden dringend gebraucht, als gesellschaftliche Symptome, die diesen Ängsten Ausdruck verleihen.« Damit wirkt die Thematik zwar beliebig, bleibt aber stets aktuell. Am interessantesten ist sie wahrscheinlich deshalb, weil längst alle Menschen von Fotografiekonsumenten zu -produzenten geworden sind und die Maschinerie durch das Teilen und Vervielfältigen von Bildern auf unterschiedlichsten Plattformen füttern.

Deshalb muss man sich nicht zuletzt selbst die Frage stellen, inwiefern man »die Lügen der Fotografie« mit vorantreibt. In Hinblick auf die künstlerische ­Fotografie, so ließe sich einwerfen, hinkt der Vorwurf allerdings. Die Imagination und Illusion, die vermeint­liche Lüge, ist immer Teil eines Kunstwerks – und macht nicht selten erst seinen Reiz aus.
Am Eröffnungswochenende Anfang Juni fanden Podiumsdiskussionen mit internationalen Gästen, die Book Days mit 30 internationalen Verlagen aus 14 Ländern und mit »Night & Day – 24h Talents« ein öffentliches Kolloquium statt. Die ersten Ausstellungen von Kooperationspartnern wurden eröffnet.

Darüber hinaus wurden die als »Specials« angekündigten Ausstellungen »Crossing Lines. Politics of Images«, »Paris Photo-Aperture Photobook Awards« und »How to Make a Book with Steidl« im Museumsquartier eröffnet. Ein reichhaltiges Angebot, aber auch eines, das nicht immer die Festivalthematik aufgreift, wie bereits an den Überschriften der beiden letztgenannten Ausstellungen deutlich wird.

Evgeniy Maloletka neben seinen Bildern, die er in Mariupol im März 2022 aufnahm

Ausgezeichnet mit dem World Press Photo Award: Evgeniy Maloletka neben seinen Bildern, die er in Mariupol im März 2022 aufnahm

Bild:
Michael Seirer Photography

»Crossing Lines. Politics of Images«, kuratiert von Hoffmann und Kateryna Radchenko, blickt gen Osten an und über die EU-Außengrenzen, hauptsächlich in die Ukraine. Die Ausstellung soll in drei Kapiteln die Distribution, Zirkulation und Mechanismen fotografischer Bilder untersuchen und zeigt historische sowie zeitgenössische Aufnahmen, Innen- und Außenperspektiven. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird thematisiert, und dabei stößt das Thema »Photography Lies« doch zumindest für einen Moment unan­genehm auf. Wird den Bildern aus der Ukraine unterstellt zu lügen?

Unter den ausgestellten Arbeiten befindet sich die 2022 angefertigte Serie »Belagerung von Mariupol« des ukrainischen Fotojournalisten Evgeniy Maloletka. Auf einer der Fotografien wird eine schwangere Frau gezeigt, die auf einer Bahre von fünf Männern getragen wird. Im Hintergrund sieht man die Verwüstungen inklusive Rauchwolke, die der gerade stattfindende Krieg hinterlassen hat. Maloletka erhielt dafür im vergangenen Jahr den World Press Photo Award. Durch die neben dem Bild platzierten Informationstafeln erfährt man, dass Mutter und Kind – Iryna Kalinina und Miron – nach der Bombardierung einer Entbindungsstation schließlich starben. Was man auf dem Bild ebenfalls nicht sieht, ist, dass es in Russland propagandistisch eingesetzt wurde: Die Situation sei von ukrainischen Schauspielern inszeniert worden. Es ist nicht die Fotografie, die lügt, sondern die Geschichte, in die sie eingebettet wird, ist eine Lüge.

Weitere Bilder, die aus unterschiedlichen Gründen für Empörung sorgten, stammen von der US-amerikanischen Fotografin Annie Leibovitz. Sie wurden im vergangenen Jahr unter der Überschrift »Portrait of Bravery: Ukraine’s First Lady, Olena Zelenska« in der Vogue veröffentlicht. Die Modezeitschrift liegt mit den aufgeschlagenen Seiten der Reportage in Vitrinen aus, daneben hängt »Life Underground«, das Titelbild. In der Bilderstrecke sieht man Olena Selenska wie sie beispielsweise mit ihrem Ehemann, dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, in dessen Büro oder aber gemeinsam mit Soldatinnen vor einem abgeschossenen Flugzeug posiert. Die Bildsprache entspricht dem unverkennbaren Leibovitz’schen Stil: Ausschnitt, Beleuchtung, Kleidung und Gestik sind nicht dem Zufall überlassen, sondern präzise inszeniert.

Die Imagination und Illusion, die vermeintliche Lüge, ist immer Teil eines Kunstwerks – und macht nicht selten erst seinen Reiz aus.

Ob eine US-Amerikanerin die richtige Wahl für das Erstellen von Bildern aus der Ukraine sei und eine Modezeitschrift der richtige Ort für deren Publikation, wurde in sozialen Medien diskutiert, während die Bilder weiterhin vielfach geteilt wurden. Wenn eine international renommierte Fotografin ihren Bekanntheitsgrad dafür nutzt, um auf einen Krieg aufmerksam zu machen (nicht das erste Mal für Leibovitz), bedeutet das erst mal nichts Schlechtes. Allerdings wirken die Bilder zum Teil wie eine groteske Hollywood-Inszenierung, das Kriegsgeschehen wie ein gutes Bühnenbild. In der Ukraine wird aber alles andere als Theater gespielt.

Sind Fotografien, die nicht das Offensichtliche zeigen, vielleicht viel eindrücklicher? Elena Subach unterstützte nach der russischen Invasion Menschen auf der Flucht an die westlichen Grenzen der Ukraine. Statt sie zu porträtieren, ihr Leid zu exponieren, fotografierte sie die Stühle, auf denen sie saßen. Wer saß dort? Kommt die Person wieder, um das Zurückgelassene abzuholen? Lebt sie noch?

Diese Arbeit steht in wohltuendem Kontrast zum provokanten Titel, zur Größe des Events und zu den renommierten Namen. Die Lügen der Fotografie sind vielleicht gar nicht das Problematische an ihr, schließlich gibt es auch moralische zu rechtfertigende Notlügen. Das Spannendste an der Fotografie sind sie ebenfalls nicht, das sind vielmehr ihre Lücken und Leerstellen.