Judith Schalanskys Essay »Schwankende Kanarien«

Das Schweigen der Vögel

In Judith Schalanskys Buch »Schwankende Kanarien« wird der gleichnamige Vogel zum Ausgangspunkt, um über den Bergbau, synthetische Düngemittel, die Erfindung der Gasmaske, den Papagei von Robinson Crusoe bis hin zur Entstehung der Umweltbewegung zu schreiben.
Buchkritik Von

Atmet ein Kanarienvogel auch nur winzige Mengen giftiger Gase, stirbt er. Wegen dieser besonderen Sensibilität wurde er im Bergbau als eine Art lebendes Frühwarnsystem genutzt. In ihrem Essay »Schwankende Kanarien« beschäftigt sich Judith Schalansky weniger mit der »Alarmfunktion« des Tiers, sondern mit dem kurzen Moment, in dem der Vogel ins Taumeln gerät, bevor er von der Stange fällt. Der Kanarienvogel wird zum Ausgangspunkt, um über den Bergbau, synthetische Düngemittel, die Erfindung der Gasmaske, den Papagei von Robinson Crusoe bis hin zur Entstehung der Umweltbewegung zu schreiben.

Schalansky interessiert sich in ihren Büchern immer schon dafür, verlorene und verschollene Objekte und Geschichten ans Tageslicht zu holen und ihnen eigene sprachliche Gestalt und Form zu geben. Seit 2013 gibt Schalansky beim Verlag Matthes & Seitz die »Natur­kun­den«-Reihe heraus, eine Sammlung von Büchern über Natur und Umwelt, die stets interessant und überraschend von Tieren, Flora und Fauna erzählt.

Die Literatur muss die Welt nicht heilen, sondern das eigene Schreiben und Erzählen, die eigene Sprache ins Wanken bringen, um das gestörte Verhältnis des Menschen zur Natur begreifen zu können.

Wie aber soll man nun darüber schreiben, dass die Welt aus den Fugen gerät, dass durch die vielzitierten »Kipppunkte« des Klimas die Zukunft unvorhersehbar und unkon­trollierbar wird?

Die Literatur muss die Welt nicht heilen, so könnte man Schalansky verstehen, sondern das eigene Schreiben und Erzählen, die eigene Sprache ins Wanken bringen, um das gestörte Verhältnis des Menschen zur Natur begreifen zu können. Die Kanarienvögel sollen nicht als Metapher dienen, weil die für Mensch und Tier reale Bedrohung sonst immer anthropozentrisch gelesen wird.

Um zu zeigen, wozu Bücher in der Lage sind, erinnert Schalansky an Rachel Carsons 1962 erschienene Studie »Silent Spring« über den Rückgang der Vogelbestände. Das Buch löst eine umweltpolitische Diskussion aus, die im Verbot des Insektengifts DDT mündete.

Judith Schalansky

Die Schriftstellerin Judith Schalansky

Bild:
René Fietzek


Judith Schalansky: Schwankende Kanarien. Verbrecher-Verlag, Berlin 2023, 72 Seiten, 14 Euro