30.03.2023
Uwe Lindemann, Literaturwissenschaftler, über Antisemitismus, Antiamerikanismus und Amazon

»Warenhäuser waren ein Symbol der sozialen Vermischung«

Der Bochumer Forscher spricht im Interview mit der Jungle World über Kaufhaus-Debatten gestern und heute.

In der derzeitigen Berichterstattung über die Schließung zahlreicher ­Filialen der Galeria-Karstadt-Kaufhof-Kette drückt sich oft Nostalgie über den Niedergang der Kaufhäuser der Nachkriegszeit aus. Der Spiegel überschrieb einen entsprechenden Text im März beispielsweise mit »Ein Ort, an dem sich tatsächlich noch alle begegnen«. Wie wurde in Deutschland über Kaufhäuser geschrieben, als sie ein neues Phänomen waren?
Ganz anders. In Deutschland war die Diskussion über Warenhäuser von Anfang an mit Abneigung gegen die Moderne und kulturkritischen De­batten verbunden. Um 1900 galten Warenhäuser als Einrichtungen, die die Sitten verderben, den Männern das Geld aus der Tasche ziehen und Frauen zu willenlosen Konsumentinnen machen. In Frankreich und den USA, wo Warenhäuser schon ein bis zwei Jahrzehnte früher etabliert wurden, bewertete man sie positiver.

Was war das Neue an Warenhäusern?
In ihnen konnte man flanieren, Zeit verbringen. Das war im bisherigen Einzelhandel anders, da durfte man die Läden nur betreten, wenn man etwas kaufte. Die großen Warenhäuser, wie beispielsweise Wertheim am Potsdamer Platz in Berlin, waren nicht nur Läden, sondern sozusagen Erlebnisräume. Es gab eine Poststelle, Restaurants, eine Bibliothek, eine Tierhandlung und so weiter. Auch architektonisch waren viele Warenhäuser modern und ambitioniert. Man versuchte, die ganze Warenwelt an einem Ort zu versammeln.

Und wie unterschieden sich Warenhäuser in ökonomischer Hinsicht von bisherigen Läden?
Das Angebot war viel größer, und weil der Gesamtumsatz höher war, waren die Preise niedriger. Überhaupt war es eine Innovation, feste Preise auszuschreiben. Zuvor funktionierte Einzelhandel so, dass der Preis je nach Kunde festgesetzt wurde, reiche Kunden zahlten in der Regel mehr. Dafür gab es bei Warenhäusern regelmäßige Sonderverkäufe und Lockangebote, bei denen sich die Menschenmassen vor den Türen stauten.

»Um die Jahrhundertwende gab es eine große gesellschaftliche Debatte über Kleptomanie, also zwanghaftes Stehlen, besonders bei Frauen.«

Auch Versandhandel gab es schon früh. Das Pariser Warenhaus Le Bon Marché, eines der ältesten und größten Warenhäuser des 19. Jahrhunderts, hat zeitweilig mehrere Millionen Kataloge weltweit verschickt. Möglich wurde all das durch die industrielle Massenproduktion von Konsum­gütern, aber auch durch Erfindungen wie die Konservendose.

Schon damals wurde kritisiert, die Warenhäuser würden den Einzelhandel verdrängen. War das zutreffend?
Viele glaubten das, aber es ist falsch. Schon um 1900 gab es Studien, die zeigten, dass kleinere Geschäfte in der Nähe von Warenhäusern sogar davon profitierten, dass diese die Kundschaft anzogen. Auch die neuere wirtschaftshistorische Forschung hat das belegt. Aber diese Geschichte – der große ­Riese ruiniert den Kleinhandel – wird bis heute weitererzählt. Sie hat auch eine sehr dunkle Seite, denn sie diente den Nazis als eines der Hauptargumente, um jüdische Warenhausbesitzer zu enteignen und ihre Warenhäuser zu »arisieren«.

Warum hat sich diese Behauptung durchgesetzt, wenn sie nicht den ökonomischen Tatsachen entspricht?
Es ist allgemein so, dass der Umsatz von Warenhäusern um 1900 nur etwa 2,5 Prozent des gesamten Einzelhandels ausmachte, aber ihnen ein im Verhältnis zu ihrer ökonomischen Rolle viel größere symbolische Bedeutung zugeschrieben wurde. Von Anfang an waren Warenhäuser ein Symbol der Modernisierung, auch der kulturellen und sozialen Vermischung. Die Geschichte vom großen Warenhaus, das die Kleinhändler auffrisst, wurde maßgeblich von Émile Zola geprägt, der diese Geschichte in seinem 1884 ver­öffentlichten Roman »Das Paradies der Damen« erzählt. Dieses Buch hat viele langlebige Metaphern für Warenhäuser geprägt, beispielsweise das Warenhaus als Monstrum oder als religiös aufgeladener »Konsumtempel«. Zolas Roman wurde oft sogar von Lexika oder Historikern als Quelle zitiert, als sei er eine wirtschaftswissenschaftliche Studie gewesen.

Was gibt es noch für Mythen über Warenhäuser?
Es gibt bestimmte Figuren und Erzählungen, die immer wieder auftauchten, sowohl in der Literatur als auch in vermeintlich sachlichen oder wissenschaftlichen Texten. Beispielsweise, dass Frauen angesichts von Waren eine Art erotischen Rausch erleben. Kul­turkritische Betrachtungen über Warenhäuser sind überhaupt von einer dezidiert männlichen Sicht geprägt und von Sorgen wie der, dass Frauen durch den Konsum in die reine Natur zurückfallen, ihnen das Geld aus der ­Tasche gezogen wird oder sie kriminell werden. Um die Jahrhundertwende gab es eine große gesellschaftliche Debatte über Kleptomanie, also zwanghaftes Stehlen, besonders bei Frauen. Einer der ganz frühen Spielfilme ist beispielsweise »The Kleptomaniac« von Edwin S. Porter aus dem Jahr 1905, der von zwei stehlenden Frauen handelt.

War das etwa weit verbreitet?
Natürlich gab es Frauen, die gestohlen haben, es gab auch professionelle ­Diebinnen, die Techniken wie doppelte Röcke einsetzten. Aber schon damals wiesen Psychologen darauf hin, dass Frauen vor allem deshalb stahlen, weil sie arm waren oder zu wenig Geld von ihrem Mann für den Haushalt bekamen. Frauen waren in der damaligen Geschlechterordnung für den Konsum verantwortlich, ihnen oblag die Repräsentation bürgerlicher Formen, und wenn ihnen dafür das Geld fehlte, klauten manche eben. Für den männlich geprägten psychologischen Diskurs war das eine wunderbare Gelegenheit, gleich die ganze Konsumkultur an den Pranger zu stellen und damit ganz zeitgemäß in das Horn der Kulturkritik zu stoßen. Überhaupt gab es an Warenhäusern viel Beunruhigendes, die Vermischung zwischen oberen und unteren Schichten etwa.

War es spezifisch für Deutschland, dass angesichts von Warenhäusern Kulturpessimismus aufkam?
Es gab solche kritischen Diskussio­nen auch in Frankreich, allerdings ­setzte sich dort schnell die Überzeugung durch, dass Warenhäuser vor ­allem innovativ waren. In Preußen und anderen Teilen des Deutschen Reichs gab es hingegen aus den bereits genannten Gründen – die Verführung der Frauen, die Zerstörung des Kleinhandels – den Versuch, Warenhäuser mit einer Sondersteuer zu belegen. Zudem verknüpfte sich in Deutschland die Diskussion über Warenhäuser besonders mit antisemitischen Vorurteilen.

Wie kam es zu dieser Verbindung?
Einige der Besitzer von Warenhäusern waren aus Osteuropa eingewanderte Juden. Der Zuzug der als besonders fremd empfundenen »Ostjuden« wurde von Antisemiten sowieso als Bedrohung wahrgenommen und mit der Gefahr einer Unterwanderung oder ähnlichen Verschwörungstheorien verbunden.

»In Deutschland verknüpfte sich die Diskussion über Warenhäuser besonders mit antisemitischen Vorurteilen.«

Dass einige davon Kaufhäuser betrieben, kam den Antisemiten gelegen, denn sie verknüpften die Entstehung der modernen Konsumsphäre mit dem Judentum, um die Moderne noch katastrophaler darzustellen, als sie ohnehin wahrgenommen wurde. Alles wurde demzufolge vom Kommerz zerstört: die Tradition, die Gemeinschaft und so weiter.

Gab es das bereits zur Zeit des Kaiser­reichs?
Ja, hierbei spielt Theodor Fritsch (1852–1933) eine wichtige Rolle, der wie kein anderer damals in Deutschland den Antisemitismus popularisierte. Er publizierte wahnsinnig viel, und eben auch über Warenhäuser. Aus der Diskussion über weibliche Kleptomanie wird bei ihm: Der jüdische Kaufmann hypnotisiert die Frau und macht sie willenlos. Auch Antiamerikanismus spielte eine Rolle.

Inwiefern das?
Oft wurden die Warenhäuser als Auswüchse der amerikanischen Kultur dargestellt, was überhaupt nicht stimmt, aber in der antisemitisch-national­sozialistischen Propaganda wurde das in einen Topf geworfen. Die Amerikanisierung der Welt ist da ja neben der »Verjudung« die zweite große Furcht: Alle Menschen werden total oberflächlich, die Männer entmachtet und zu ­Figuren degradiert, die nur noch das Geld ranschaffen, während die Frau in Saus und Braus lebt. Solche Schilderungen gibt es in den zwanziger Jahren. Oft wurden Warenhäuser auch mit Schund und schlechter Qualität assoziiert. »Made in Germany« stand zwar in den 1870er Jahren noch für schlechte Produktqualität, wurde aber bald ­umcodiert. Und Warenhäusern wurde unterstellt, dass sie nur billigen Schund vertreiben, im Gegensatz zu deutscher Wertarbeit. Dabei geriet insbesondere auch der amerikanische Konzern Woolworth in den Fokus, der in den zwanziger Jahren aus den USA nach Deutschland expandierte.

Und was haben die Nazis aus solchen Ressentiments gemacht?
Schon im ersten Parteiprogramm der NSDAP von 1920 steht die Forderung, Warenhäuser abzuschaffen. Praktisch spielte das jedoch, trotz der Verlaut­barungen, die Warenhäuser würden den gesunden deutschen Mittelstand ruinieren, in der nationalsozialistischen Politik lange keine Rolle. Die Warenhäuser waren ja sehr große Be­triebe, in denen viele Leute arbeiteten, die potentielle Wähler waren. Aber mit der Machtübernahme der Nazis sollten Juden aus dem Wirtschaftsleben herausgedrängt werden. Karstadt entließ schon 1933 unter fadenschei­nigen Gründen viele seiner jüdischen Angestellten, während die Warenhäuser in jüdischem Besitz länger dagegen ankämpften. Dann gab es die gewalt­tätigen Boykottaktionen unter anderem gegen »den jüdischen Handel«. Und schnell schlägt das um in die »Arisierung«, dass Inhaber rausgedrängt, teilweise mit dem Tod bedroht wurden und ihr Eigentum für Spottpreise ­verkaufen mussten.

Wenn Sie die heutigen Debatten über Warenhäuser verfolgen, welche Ähnlichkeiten sehen Sie zu jenen vor 100 Jahren?
Dass den Warenhäusern überhaupt heute noch so eine große symbolisch-kulturelle Bedeutung zugemessen wird, verdankt sich sicher auch diesen alten Diskussionen. Wirtschaftlich spielen sie längst keine große Rolle mehr. Bestimmte Geschichten werden dabei immer weitergeführt – dass der Riese die Kleinen vernichtet beispielsweise. Nur sind es jetzt die Warenhäuser, die von globalen »Krakenfirmen« wie Amazon bedroht werden.

Uwe Lindemann

Uwe Lindemann ist Literaturwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum. 2015 veröffentlichte er die Studie »Das Warenhaus. Schauplatz der Moderne«, in dem er Debatten über Warenhäuser zwischen 1880 und 1940 untersuchte. Im Mai erscheint sein Buch »Das gekaufte Ich. Eine Praxeologie der frühen Konsumkultur«.

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privat