Transgeschlechtliche Personen in Brasilien hoffen auf Verbesserungen unter Präsident Lula

Es geht ums Ganze

Brasilien gilt als eines der gefährlichsten Länder für transgeschlechtliche Personen weltweit. Im Jahr 2021, während der Präsidentschaft des offen homophoben und queerfeindlichen Jair Bolsonaro, erreichte die transfeindliche Gewalt im Land einen Höhepunkt.

Seit 13 Jahren führt Brasilien in den Berichten des Projekts Trans Murder Monitoring (TMM) die Liste der Länder mit der höchsten Lebensgefahr für transgeschlechtliche Personen an. 33 Prozent der 375 weltweit von TMM erfassten Morde fanden 2021 in Brasi­lien statt, auf das Land allein entfallen also 125 Morde. Die Vereinigung der Transvestiten und Transsexuellen in Brasilien (Antra, Associação Nacional de Travestis e Transexuais) spricht sogar von bis zu 140 Morden in Brasilien im Jahr 2021. Abgesehen davon, dass ganz allgemein von einer hohen Dunkelziffer in diesem Bereich auszugehen ist, muss im internationalen Vergleich berücksichtigt werden, dass die Meldesysteme je nach Land unterschiedlich gut ausgebaut sind und auch die Datensammlung über Internetrecherche nicht überall ergiebig ist. So kann TMM keine Angaben zu einem Großteil afrikanischer Länder machen, auch aus dem osteuropäischen Raum fehlen Daten. Eine gute Datenlage kann auch Rückschlüsse darüber geben, in welchen Ländern queere Organisationen aktiv sind und die Situation analysieren. Dies scheint unter anderem in Pakistan, der Türkei und verschiedenen lateinamerikanische Ländern der Fall zu sein.

Antra zufolge wurden die meisten transfeindlich motivierten Morde an trans­femininen Personen oder transgeschlechtlichen Frauen verübt, 81 Prozent von ihnen waren schwarz und 78 Prozent in der Sexarbeit tätig.

Die Vereinigung Antra sammelt und analysiert Daten zu transfeindlicher Gewalt in Brasilien. Das Netzwerk vereint 127 Gruppen im ganzen Land, die sich für die Stärkung der ­Bürgerrechte von transgeschlechtlichen Personen einsetzen. Ihrer Datenana­lyse zufolge wurden die meisten der Morde an transfemininen Personen oder transgeschlechtlichen Frauen verübt, 81 Prozent der Opfer waren schwarz und 78 Prozent in der Sexarbeit tätig; die Gewalt trifft überwiegend besonders marginalisierte und in prekären Lebensverhältnissen lebende transgeschlechtliche Personen.

Nun ist die drängende Frage, wie sich der neu gewählte Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva für die Verbesserung der Situation von LGBTQI-Menschen einsetzen wird. In seinem Wahlkampf trat er klar für eine gleichberechtigte Gesellschaft ein und sagte in einer Ansprache vom Juni 2022: »Der Kampf gegen Homophobie ist ein täglicher Kampf.« Die Organisation Antra setzt große Hoffnung in Lula. In einem ihrer Positionspapiere mit dem Titel »Zur Verteidigung der Demokratie« vom 15. Oktober heißt es, Antra vertraue darauf, dass er »die Wichtigkeit ihrer Kämpfe erkennt und die Möglichkeit der Verteidigung der ­eigenen Rechte und Würde garantiert«.

Von der neuen Regierung kann die queere Community Brasiliens eine stärkere Berücksichtigung ihrer Belange erwarten und auf mehr Repräsentation in den Ministerien hoffen. Bei den Par­lamentswahlen 2022 haben vier offen lebende LGBTQI-Personen einen Sitz im Repräsentantenhaus erhalten. Unter ihnen sind die ersten beiden Trans-Parlamentsabgeordneten in der Geschichte Brasiliens, Erika Hilton (PSOL-SP) und Duda Salabert (PDT-MG). Jedoch gehört die Mehrheit der Sitze im Parlament nach wie vor erzkonservativen und Bolsonaro nahestehenden Abgeordneten, was die geplante Durchsetzung von Gesetzen und Stärkung der LGBTQI-Rechte erschweren könnte.

Erst seit 2018 wird Transgeschlechtlichkeit von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht mehr als Störung klassifiziert und somit aus der Internationalen Klassifikation der Krankheiten gestrichen. Wenige Monate zuvor, im März 2018, beschloss das Oberste Bundesgericht (Supremo Tribunal Federal, STF) Brasiliens, dass die Änderung des Namens und des Geschlechts im Melderegister auf administrativem Weg, also direkt beim Standesamt, erfolgen kann, ohne dass eine Klage oder eine geschlechtsangleichende Operation erforderlich ist. Hinzu kommt, dass der Oberste Bundesgericht 2019 festgestellt hat, dass Anfeindungen aufgrund der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität als Straftat zu bewerten sind. Brasilien gilt im ­lateinamerikanischen und auch im internationalen Vergleich in Bezug auf LGBTQI-Rechte als sehr fortschrittlich.

Die rechtlichen Errungenschaften standen allerdings im Widerspruch zu der Politik unter der autoritären Regierung Jair Bolsonaros. So wurden unter anderem staatliche Mittel für LGBTQI-Organisationen gekürzt und teilweise ganz eingestellt. Die Regierung Bolsonaros, die von der Vorgängerregierung den Auftrag erbte, die 4. Nationale LGBTQI-Konferenz abzuhalten, sagte diese im Mai 2020 ab. Im Dezember 2021 löste die Regierung schließlich die Abteilung für Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und transgeschlecht­liche Personen (DPLGBT) auf, die an das Ministerium für Menschenrechte und Bürgerbelange angegliedert war, und beendete damit die Existenz des ein­zigen Gremiums, das sich auf Bundesebene ausschließlich für die Belange der LGBTQI einsetzte.

Bolsonaro ist bekannt für seine homo- und transfeindliche Hetze. So gewann er 2018 viele Stimmen der konservativen-fundamentalistischen Evangelikalen. Nach seinem Wahlsieg übertrug er die Leitung des neugegründeten Ministeriums für Frauen, Familien und Menschenrechte, das auch für Belange von LGBTQI zuständig ist, an die notorische Abtreibungsgegnerin und Pastorin Damares Alves. Nach ihrer Amtseinführung 2019 verkündete sie: »Es ist eine neue Ära in Brasilien. Jungen tragen Blau und Mädchen Rosa.« Bolsonaro selbst verkündete 2019: »Wer auch immer hierher kommen und Sex mit einer Frau haben möchte, kann das gerne tun. Brasilien kann aber kein Land für Schwulentourismus sein. Wir haben Familien.« Die Zahlen lassen vermuten, dass die offene Hass­rede gegen die LGBTQI Bevölkerung die geschlechtsspezifische und transfeindliche Gewalt in Brasilien weiter befeuert hat.

Die größten Herausforderungen für die Regierung Lula da Silvas werden sicherlich darin bestehen, die demokratischen Strukturen zu stärken und vor allem den antidemokratischen und faschistischen Tendenzen in der Be­völkerung entgegenzuwirken. Davon hängt auch die Verbesserung der Si­tuation queerer Brasilianer:innen ab. Wie Rita von Hunty, brasilianischer ­Intellektueller und bekannte Dragqueen, es ausdrückte: »Der Bolsonarismus stirbt nicht mit Bolsonaro.« Mit dem Machtwechsel kann die queere Community aufatmen, aber in Sicherheit leben kann sie noch nicht.