Russland intensiviert Angriffe auf ukrainische Städte

Planvolle Eskalation

Die russischen Raketenangriffe auf ukrainische Städte sollen eine Vergeltung für den Angriff auf die Krim-Brücke darstellen. Doch die Bombardierung ukrainischer Energie­infrastruktur gehört seit langem zur russischen Strategie.
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Die Raketen kamen zur morgendlichen Rush Hour. Am Montag, dem 10. Oktober, wurde in fast der gesamten Ukraine der Flugalarm ausgelöst. Mindestens 84 Marschflugkörper schoss die russische Armee auf ukrainische Städte und ihre Infrastruktur. 43 wurden von der Luftabwehr abgefangen, teilte das ukrainische Militär später mit. Hinzu kamen zwei Dutzend Angriffsdrohnen vom Typ Shahed, die Russland beim Iran kauft und bereits in den vergangenen Wochen eingesetzt hatte, um etwa die ukrainische Hafenstadt Odessa zu bombardieren. Allein in der Hauptstadt Kiew soll es nach Polizeiangaben bis Montag nachmittags zehn Tote und 60 Verletzte gegeben haben. Am Dienstag wurden die Angriffe fortgesetzt, wenn auch in geringerer Intensität.

Es waren die heftigsten Luftangriffe seit den ersten Tagen des Kriegs. Besonders schockierten die Bilder von Raketeneinschlägen in offenbar nichtmilitärischen Zielen. In Kiew explodierten zwei Raketen in unmittelbarer Nähe der zentral gelegenen Univer­sität neben dem Schewtschenko-Park, wo gewöhnlich Kinder tollen und ältere Herren Schach spielen. Der russische Präsident Wladimir Putin sagte, Russland übe Vergeltung für den »Terrorismus« der Ukraine. Nach der Explosion auf der strategisch wie auch symbolisch wichtigen Brücke über die Straße von Kertsch, die die Krim mit dem russischen Festland verbindet und den Nachschub für die südlichen Invasionstruppen sicherstellt, sowie den erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensiven der vergangenen Woche wollte ­Putin Stärke zeigen.

Es applaudierten dann auch die Hardliner. »Wir haben dich gewarnt, Selenskyj, dass Russland noch nicht mal richtig angefangen hat«, schrieb der Präsident der tschetschenischen Teilrepublik Russlands, Ramsan Kadyrow, auf Telegram. Anders als beim seit Monaten üblichen Beschuss frontnaher Städte, etwa Charkiw, Mykolajiw, oder Saporischschja, wurden die Bilder der Zerstörung dem russischen Publikum auch nicht vorenthalten. »Videos der ­Explosionen aus Kiew laufen im Staats-TV in Dauerschleife. Das Publikum bekommt Genugtuung«, kommentierte der Moskau-Korrespondent der ARD, Demian von Osten, auf Twitter.

Doch ging es nicht nur um blindwütigen Terror. Gezielt hatte Russland neben mutmaßlichen Kommandostellen Energieinfrastrukturobjekte angegriffen. In weiten Teilen Kiews kam es zu Stromausfällen, über 1 300 Städte und Dörfer in mehreren Regionen seien noch abends ohne Strom gewesen, teilten die ukrainischen Behörden mit. Auch am Dienstag hätten die Angriffe dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba zufolge vor allem Kraft­werken und der Strominfrastruktur gegolten. »Das sind Kriegsverbrechen, die lange im Voraus geplant waren und darauf abzielen, für Zivilisten unerträgliche Bedingungen herzustellen – seit Monaten Russlands bewusste Strategie«, schrieb er auf Twitter.

Seit Februar beschießt die russische Regierung immer wieder Raffinerien und Kraftwerke. Mit dem Ende des Sommers war mit einer Intensivierung solcher Angriffe zu rechnen. Bereits Ende August berichtete die britische Tageszeitung Guardian, dass die Ukraine Notfallpakete in Form von mobilen Heizkesseln oder Dieselgeneratoren vorbereite, um bis zu 200 000 Menschen mit Wärme versorgen zu können.

Nichts deutet darauf hin, dass die russische Führung ihr Maximalziel, die ukrainische Regierung zur Kapitulation zu zwingen, aufgegeben hat. Mit den Annexionen ostukrainischer Gebiete in der vergangenen Woche hat Putin alle Wege zurück versperrt, selbst die vor dem Februar 2022 sicher von Russland kontrollierte Krim ist mittlerweile Kriegsgebiet. Es bleibt nur weitere Eskalation und die Mobilmachung Hunderttausender neuer Soldaten. Der Versuch, den ukrainischen Widerstand durch Zerstörung der Infrastruktur und der wirtschaftlichen Basis zu brechen, war stets Teil dieser Strategie. Und immer offener droht Putin auch mit dem Einsatz von Atomwaffen.

Auffällig ist deshalb, dass nach den Angriffen vom Montag Vertreter sowohl Indiens als auch Chinas eine Deeskalation forderten. »Alle Länder verdienen, dass ihre Souveränität und territoriale Integrität respektiert werden«, sagte eine Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, ebenso aber auch »die legitimen Sicherheitsinteressen jedes Landes« – womit Russland gemeint sein dürfte. Es sollten Versuche unterstützt werden, »die Krise friedlich zu lösen«. Das könnte anzeigen, dass die beiden Länder, die sich mit Kritik an der russischen Kriegsführung sonst demonstrativ zurückhalten, unzufrieden über die lange Dauer des Krieges sind und nicht bereit sein könnten, alle russischen Eskalationsschritte zu akzeptieren.