Ein Gespräch mit Alexis Bay über Abtreibung im US-Bundesstaat Texas

»Wir leben hier in einer militarisierten Zone«

Abtreibung und Abschiebung. Alexis Bay von der Hilfsorganisation Frontera Fund spricht über das drohende Ende des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in den USA und die schwierige Lage im Süden von Texas.
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Wie sieht die Arbeit Ihrer Organisation Frontera Fund aus?

Wir bieten im tiefen Süden von Texas praktische Unterstützung für Menschen, die abtreiben wollen. Das heißt, wir helfen ihnen dabei, die entsprechenden Termine zu bekommen, und unterstützen sie bei den Kosten für Hotels, Flüge und Benzin oder bei der Betreuung von Kindern. Die Menschen können unsere Hotline anrufen und dann finden wir heraus, wie wir ihnen helfen können. Außerdem arbeiten wir mit anderen Fonds und Organisationen zusammen, um die Kosten für die Betroffenen so weit wie möglich zu minimieren.

Was macht das Rio Grande Valley, in dem Sie tätig sind, und den Süden von Texas im Vergleich zum Rest der USA so besonders? Welche Herausforderungen gibt es hier für Ihre Arbeit?

Das Rio Grande Valley ist mehrheitlich mexikanisch-amerikanisch geprägt, viele kommen aus der Arbeiterklasse. Was das Thema Abtreibung betrifft, wird unsere Arbeit vor allem dadurch erschwert, dass wir hier in einer militarisierten Zone leben. Alle drei Highways, die aus dem Valley führen, werden durch Checkpoints des Grenzschutzes überwacht. Auch in Richtung Mexiko und am regionalen Flughafen werden Dokumente kontrolliert. Wer keine Papiere hat, ist praktisch gefangen, du kannst nirgendwohin.

»Für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus ist es nicht möglich, eine Abtreibung außer­halb des Rio Grande Valley zu bekommen, ohne dabei eine Abschiebung zu riskieren.«

Für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus ist es also nicht möglich, eine Abtreibung außerhalb des Valley zu bekommen, ohne dabei eine Abschiebung zu riskieren. 55 Prozent der Haushalte im Valley gelten als Bedarfsgemeinschaft mit einem »gemischten« Einwanderungsstatus, hier leben also US-Bürgerinnen und -bürger zusammen mit Personen, die nur eine Duldung oder gar keine Papiere haben. Es gibt viel Angst, denn selbst Menschen, deren Status gesichert ist, haben Personen in ihrem Umfeld, die von Abschiebung bedroht sind.

Zudem ist es wegen unserer geographischen Lage sehr teuer, in andere Teile von Texas und besonders der restlichen USA zu reisen. Dadurch gibt es auch eine ökonomische Hürde, einen Flug zu nehmen oder per Auto drei bis sechs Stunden nach San Antonio oder Austin zu fahren. Die meisten Schwangeren, die in den USA abtreiben möchten, haben zudem bereits Kinder. Also brauchen sie für die Zeit des Eingriffs und der Genesung außerdem Kinderbetreuung und Beurlaubung.

Hat sich die Militarisierung der Grenze zu Mexiko verschärft?

Absolut, ja. Es ist über die Jahre immer schlimmer geworden.

Welche Möglichkeiten gibt es denn überhaupt für abtreibungswillige Schwangere im Valley, die keine gültigen Aufenthaltspapiere haben?

Es gibt noch eine Klinik im Valley, da versuchen wir es zuerst. Wir hatten früher zwei Kliniken, doch wegen einer Gesetzesänderung in Texas im Jahr 2013 haben wir die andere Abtreibungsklinik verloren (das Gesetz verschärfte die Auflagen für Abtreibungszentren, zum Beispiel müssen sie nun dieselben Standards erfüllen wie andere chirurgische Gesundheitseinrichtungen im Bundesstaat. Mehr als die Hälfte der Zentren in ganz Texas musste deshalb schließen, Anm. d. Red.). Zudem gibt es informelle Gruppen und Einzelpersonen, die die Grenze überqueren, in Mexiko Abtreibungspillen in der Apotheke kaufen und sie dann hierher bringen. Damit haben wir aber direkt nichts zu tun.

Der Oberste Gerichtshof könnte demnächst die Grundsatzentscheidung im Fall Roe v. Wade, die Schwangeren grundsätzlich das Recht zugesteht, über Abbruch oder Fortführung ihrer Schwangerschaft selbst zu entscheiden, ganz oder teilweise außer Kraft setzen. Wie bereiten Sie sich auf das mögliche Ende des Rechts auf Abtreibung vor?

Man kann sich auf so etwas überhaupt nur bis zu einem gewissen Punkt vorbereiten. Wir befinden uns in einer beispiellosen Zeit, denn der Oberste Gerichtshof schränkt womöglich Rechte ein, die jahrzehntelang anerkannt wurden. Darüber hinaus denke ich, dass jede Person mit einer Gebärmutter in den USA gerade einen Verlust der körperlichen Autonomie und eine gewisse Schwere erlebt. Ich habe mitgekriegt, dass Leute wütend oder traurig sind, und diese Gefühle haben wir bei Frontera Fund natürlich auch.

Jetzt versuchen wir vor allem, so vielen Menschen wie möglich bei Abtreibungen zu helfen, bis auch das verboten ist. In letzter Zeit bedeutet dies vor allem, Menschen zu helfen, über die Grenzen von Texas zu gelangen. Danach werden wir eine Metamorphose durchlaufen und schauen müssen, was das Nächstbeste ist, das wir tun können. Wir haben hier in Texas mit dem »Human Life Protection Act« (Gesetz zum Schutz menschlichen Lebens) von 2021 ein sogenanntes Trigger-Gesetz, dass in Kraft tritt, sobald Roe v. Wade gekippt wird. Dann wird unsere Arbeit illegal.

Was kommt danach?

Auf jeden Fall Lobbyarbeit, es gibt Kampagnen, für die wir bereits mit der Arbeit begonnen haben, aber bis jetzt steht noch nichts fest.

Sie haben der »Financial Times« vor kurzem gesagt, dass das Rio Grande Valley ohnehin schon in einer »Post-Roe-Welt« existiere. Was meinten Sie damit?

Wir haben hier eine besondere Situation wegen der Militarisierung der Grenze und dem sogenannten ­Texas Heartbeat Act (Texas-Herzschlaggesetz, dieses ist seit September 2021 in Kraft und verbietet Abtreibungen mit nur wenigen Ausnahmen, sobald ein fötaler Herzschlag festgestellt wurde; dagegen haben zwar verschiedene Abtreibungsanbieter geklagt, es bleibt jedoch in Kraft, so­lange der Fall anhängig ist, Anm. d. Red.). Ein fötaler Herzschlag ist meist um die sechste Schwangerschaftswoche bemerkbar. Die meisten finden aber erst später heraus, dass sie schwanger sind, also mussten schon viele Texas verlassen und Abtreibungen in Bundesstaaten wie New Mexico vornehmen lassen. Das Gesetz verbietet es auch, nach Einsetzen des Herzschlags selbst eine Abtreibung vorzunehmen oder jemand anderem dabei zu helfen. Privatpersonen sind dazu angehalten, andere zu melden, die gegen das Gesetz verstoßen (da es nur durch private zivilrechtliche Rechtsmittel durchgesetzt werden kann, Anm. d. Red.).

Zeichnet sich im Rio Grande Valley jetzt schon ab, was in anderen Teilen der USA bald Realität werden könnte?

Ja, in den Bundesstaaten mit eigenen Trigger-Gesetzen.

Bekommen Sie mehr Unterstützung, seit Anfang Mai der Entwurf für eine Urteilsbegründung des Obersten Gerichtshofs, um die Grundsatzentscheidung im Fall »Roe v. Wade« aufzuheben, durchgestochen wurde?

Es gibt auf jeden Fall mehr Aufmerksamkeit, und viele Leute haben gespendet, was uns sehr hilft.

Wie kann man Ihre Arbeit unterstützen?

Neben Geldspenden ist es immer hilfreich, wenn sich Leute an unseren Kampagnen beteiligen und über die sozialen Medien unsere Aufrufe teilen.

Was wird Ihrer Meinung nach in der Berichterstattung über die Abtreibungsdebatte vernachlässigt?

Für uns im tiefen Süden von Texas ist Abtreibung sehr eng mit Migration, Klasse und anderen Themen verbunden. Diese Bereiche stehen nicht einzeln für sich, sondern sie überlappen sich. Wenn ein Recht wie das auf Abtreibung so wie jetzt bedroht wird, dann hat das Folgen für Bereiche jenseits der reproduktiven Gerechtigkeit. Menschen, die ohnehin schon marginalisiert sind, könnten noch stärker marginalisiert werden.

Um die Lage im südlichen Texas und das Thema Abtreibung im Besonderen zu verstehen, muss man sich auch mit der Militarisierung in unserer Region und dem historischen Kontext beschäftigen, der zu ihr geführt hat. Das ist vielleicht ein Thema, das an vielen Menschen vorbeigeht, auch in anderen Teilen von Texas. Wir sind hier Teil von zwei Welten. Wir sind ein wichtiger Migrationskorridor für Tiere, Vögel und natürlich Menschen. Und wir haben eine lange und gewaltvolle Geschichte erlebt, durch Rassismus und Repression gegen mexikanische Amerikanerinnen und Amerikaner durch den texanischen Staat.

Die Aufmerksamkeit auch internationaler Medien hatte das Rio Grande Valley wohl zuletzt nach der Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 erregt. Damals ging es um einen sogenannten Rechtsschwung unter Latinos, da Donald Trump dort mehr Stimmen erhielt als bei der Wahl zuvor. Wie würden Sie das politische Klima im Valley beschreiben, besonders im Bezug auf das Thema Abtreibung?

Ich glaube, es ist eines der komplizierten Themen für diese Community. Die Leute hier tendieren in vielen Bereichen dazu, relativ liberal zu denken, aber wenn es um Abtreibung geht, steht definitiv noch viel Arbeit bevor, um sie zu demystifizieren und den Menschen dabei zu helfen, die Gründe zu verstehen. Das ist hier eine kulturell katholisch geprägte Region, es sind sicherlich einige gegen Abtreibung. Wenn man hier herumfährt, sieht man auch viele Plakate mit Stellungnahmen gegen Abtreibung. Es gibt hier, glaube ich, keine Mehrheit für die eine oder andere Position, sondern eher eine deutliche Spaltung in Hälften.

Im Valley konkurrieren auch Kandidatinnen und Kandidaten der Demokratischen Partei miteinander, die gegensätzliche Positionen zum Thema Abtreibung vertreten.

Ja, zum Beispiel gab es kürzlich einen Wettbewerb zwischen Michelle Vallejo und Ruben Ramirez (sie waren die beiden Erstplatzierten bei den Vorwahlen der Demokratischen Partei am 1. März für den 15. Kongressbezirk von Texas, Anm. d. Red.). Unter den Demokraten gibt es hier auf jeden Fall verschiedene Lager, in denen manche für und andere gegen Abtreibung sind.