Die Türkei hat ein ambivalentes Verhältnis zur Nato

Abwarten und Tee trinken

Die Nato war für die Türkei früher der Sicherheitsgarant gegen die Sowjetunion. Derzeit ist die kurdische Sezession die größere Gefahr und die Nato ein unattraktiver Bündnispartner.

Als Präsident Recep Tayyip Erdoğan ein Veto der Türkei gegen den Nato-Beitritt von Schweden und Finnland ankündigte, waren die übrigen Nato-Staaten völlig überrascht und Politikerinnen wie Medien gingen davon aus, dass gutes Zureden und ein paar Zugeständnisse reichen würde, um den türkischen Präsidenten zum Einlenken zu bewegen. Doch die Blockade hält an und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies bald ändert. Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der extrem rechten Partei MHP, die mit Erdoğans AKP koaliert, hat sogar mit einem Austritt aus der Nato gedroht. Selbst Verhandlungen mit Finnland und Schweden lehnte die Türkei der Financial Times zufolge ab.

Dass Erdoğan ziemlich stur sein kann, hat er mehr als einmal bewiesen. Selbst als ihn der damalige US-Präsident Donald Trump im Sommer 2018 wegen der Inhaftierung des US-ame­rikanischen Pastors Andrew Brunson wirtschaftlich stark unter Druck setzte, ließ sich Erdoğan monatelang Zeit für dessen Freilassung. Und was hätte Er­do­ğan überhaupt davon, wenn er rasch nachgäbe?

Die westliche Öffentlichkeit versteht das Verhältnis der Türkei zur Nato nicht.

Von Schweden und Finnland fordert die Türkei die Aufhebung des Waffenembargos, das beide Länder wegen des Angriffs der Türkei auf die syrischen Kurdinnen verhängt hatten. Sie sollen darüber hinaus die syrisch-kurdische YPG als terroristische Organisation behandeln, wie es bei der türkisch-kur­dischen PKK bereits der Fall ist. Zudem verlangt die Türkei von den beiden Ländern die Auslieferung angeblicher Terroristen.

Einer dieser »Terroristen« ist der 74jährige Ragıp Zarakolu. Der linke türkische Verleger hat unter anderem ein Buch über den Völkermord an den Armenierinnen im Ersten Weltkrieg herausgebracht. Während Zarakolu (nicht zum ersten Mal) aus politischen Gründen im Gefängnis saß, wurde er im Jahr 2012 von Mitgliedern des schwedischen Parlaments für den Friedens­nobelpreis vorgeschlagen. Daraufhin wurde der Türkei die Sache zu heiß, ­Zarakolu kam vorübergehend frei und zog nach Schweden, wo er heiratete. Die Türkei fordert seine Auslieferung, die das oberste schwedische Gericht bereits abgelehnt hat.

Doch der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu weiß auch in solchen Fällen Rat: Schweden und Finnland sollten einfach ihre Gesetze ändern, um Auslieferungen zu erleichtern. Schweden ist offenbar bereit, einzuknicken. Nach einem Besuch von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ver­sicherte die sozialdemokratische schwedische Ministerpräsidentin Magdalena Andersson: »Wir nehmen die türkischen Bedenken sehr ernst und nicht zuletzt ihre Sicherheitsbedenken im Kampf gegen den Terrorismus.« Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, was das heißen soll, fügte sie hinzu, dass die schwedischen Antiterrorgesetze in den vergangenen Jahren bereits geändert worden seien und weiter geändert würden.

Wird also Zarakolu, weil er Bücher herausgegeben hat, die Erdoğan missfallen, in Schweden bald als Terrorist angesehen werden? Seit Jahren fordert die EU die Änderung der türkischen Antiterrorgesetze und macht davon die lange versprochene Erleichterung der Einreise von türkischen Staatsbürgern in die EU abhängig. Nun will die Türkei den Spieß umdrehen und zwei EU-Länder »reformieren«.

Erdoğan hat wahrlich keinen Grund, sich zu beeilen, schließlich kann er davon ausgehen, dass man ihm immer mehr Zugeständnisse machen wird, je länger er die Skandinavier zappeln lässt. Und vielleicht müssen ja noch andere Nato-Staaten was draufsatteln; beispielsweise fordert Erdoğan von den USA die Wiederaufnahme in das F-35-­Kampfflugzeugprogramm. Die USA hatten die geplante Lieferung der Kampfflugzeuge und das Ausbildungsprogramm für türkische Piloten abgesagt, nachdem die Türkei 2019 ein russisches Raketenabwehrsystem eingekauft und damit gegen eine Nato-Vereinbarung verstoßen hatte. Solange Erdoğan Schwedens und Finnlands Nato-Beitritt nicht zustimmt, hat er außerdem ein Druckmittel gegen seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin.

Dieser kontrolliert immer noch den Luftraum über Syrien westlich des Euphrat. Seit langem möchte Erdoğan das ganze grenznahe Gebiet westlich des Euphrat unter seine Kontrolle bringen, auch um kurdische Guerillaangriffe im kurdischen Kanton Afrin zu unterbinden, den die Türkei seit 2018 besetzt hält. Doch Putin scheint das bisher abzulehnen. Schließlich würde ein solches Zugeständnis an Erdoğan auch zu Lasten seines Schützlings, des syrischen Diktators Bashar al-Assad, gehen. Putins Weigerung spricht dafür, dass er seine Position trotz Sanktionen und anfänglicher Rückschläge im Krieg gegen die Ukraine noch immer als stark ansieht.

Die westliche Öffentlichkeit hat nicht nur Erdoğans Hartnäckigkeit unterschätzt, sie versteht auch das Verhältnis der Türkei zur Nato nicht. In der Türkei lehnen viele die Nato ab. Das ist in anderen Ländern nicht anders, aber die Gründe sind zum Teil andere. Pazifismus spielt in der Türkei, wo die Kinder schon in der Vorschule von den großen Schlachten der Türken hören, keine große Rolle, dass sich die Türkei von anderen Nato-Staaten manchmal wie ein Partner zweiter Klasse behandelt fühlt, schon eher.

Dann ist da noch die Geschichte mit dem Militärputsch 1980. Es wird sich wohl nicht mehr klären lassen, ob die USA die türkischen Generäle ermuntert haben oder zumindest von den Putschplänen wussten. Jedenfalls ist man in der türkischen Linken weitgehend davon überzeugt, dass die USA ihre Finger beim Regierungssturz im Spiel hatten. Nach dem Putsch wurde dieser, obwohl er den Grundsätzen der Nato widersprach, sofort verharmlost. Im Nato-Hauptquartier in Brüssel soll man gewitzelt haben: »Sie werden schon niemanden aufhängen.«

Das taten die Generäle dann aber sehr wohl. 50 Menschen wurden hingerichtet, eine weit größere Zahl starb durch Folter, kam unter verdächtigen Umständen ums Leben oder beging in der Zelle angeblich Selbstmord. Insgesamt ließen die Putschisten 650 000 Menschen verhaften. Indessen erhöhten die Nato-Länder, allen voran Deutschland, kräftig die Militärhilfen. Für Erdoğan dürfte die Rolle der Nato beim Putsch von 1980 keine große Bedeutung mehr ­haben, aber sie ist einer der Gründe, warum die Nato in der Türkei unpopulär ist.

Indessen ist in Vergessenheit geraten, warum man der Nato einst beitreten wollte. Nach dem Zweiten Weltkrieg fühlte sich die Türkei von der Sowjetunion bedroht. Schließlich setzte Stalin in verschiedenen Balkanstaaten ihm genehme Regime ein und unterstützte die Kommunisten im Griechischen Bürgerkrieg (1946–1948). Die ­Besetzung der Türkei und damit die Kon­trolle der dortigen Meerengen wäre strategisch der nächste Schritt gewesen – und die Fortsetzung einer Ex­pan­sionspolitik, die die Zaren jahrhundertelang verfolgt hatten.

Um sich dem Westen anzunähern, war man in der Türkei sogar bereit, ein echtes Mehrparteiensystem zuzulassen. Die Demokratisierung klappte so gut, dass die Regierungspartei sich widerstandslos in die Opposition zurückzog, nachdem sie 1950 die ersten freien Wahlen verloren hatte.

Doch obwohl mit Portugal sogar ein diktatorisch regiertes Land Gründungsmitglied der Nato war, bekam die Türkei keine Einladung. Da entschloss sich die gerade erst ins Amt gekommene Regierung unter Adnan Menderes, 5 000 Soldaten in den Korea-Krieg zu entsenden. So verdiente sich die Türkei die Aufnahme in die Nato zwei Jahre später.

Das Gefühl, von Moskau bedroht zu sein, ist in der heutigen Türkei völlig verschwunden. Auch der Überfall auf die Ukraine hat daran bislang nichts geändert. Wenn sich die Türkei bedroht sieht, dann von einer kurdischen Sezession, und gegen die hilft die Nato wenig, deren Mitgliedsländer die Unterdrückung der kurdischen Opposition mehrheitlich kritisch sehen. Auch grenzüberschreitende Operationen, die angeblich der türkischen Sicherheit dienen, haben andere Nato-Staaten verurteilt und teils mit Waffenembargos geahndet, wie es eben auch Finnland und Schweden taten.

So gilt die Nato der Türkei kaum als Garant der eigenen Sicherheit, sondern eher als ein Verein, in dem Mitglied zu sein, den eigenen Interessen dient. Dazu gehört, dass man dank des Vetorechts effektiven Druck entfalten kann. Unter anderem deshalb ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Türkei demnächst die Nato verlässt. Ein solcher Schritt würde es auch sehr viel schwieriger machen, dem Nato-Mitglied Griechenland militärisch zu drohen. Zum Beispiel hat eine Resolution des türkischen Parlaments aus dem Jahr 1995 noch immer Gültigkeit, die Griechenland mit Krieg droht, falls es seine Hoheitsgewässer in der Ägäis von sechs auf zwölf Seemeilen ausdehnt. Nach einem Seerechtsabkommen von 1982 sind Staaten dazu berechtigt, zwölf Meilen zu beanspruchen, aber die Ägäis mit ihren vielen griechischen Inseln würde sich dann in ein griechisches Binnengewässer verwandeln.