Flüchtlinge erhalten in Deutschland zu wenig psychologische Unterstützung

Sich selbst überlassen

Viele Flüchtlinge haben Furchtbares erlebt, oft sind sie traumatisiert oder von ihrer schwierigen Lage in Deutschland überfordert. Doch psychologische Hilfe erhalten nur wenige.

Weiterhin kommen jeden Tag Tausende ukrainischer Flüchtlinge in Berlin an, die vor dem russischen Angriffskrieg fliehen. Mehr als 300 000 hat die ­Bundespolizei inzwischen deutschlandweit registriert, die tatsächliche Zahl ist wohl deutlich höher. Weil Männer im wehrpflichtigen Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht verlassen dürfen, sind es vor allem Frauen und ­Kinder.

Viele brauchen neben einer Unterkunft und Verpflegung auch psychosoziale Hilfe. »Wir schauen zum Beispiel, wie ist ihr Schlafverhalten, ihr Essverhalten, besteht die Gefahr einer Selbstverletzung«, schildert Christian Wenzel, Psychologe beim Berliner Beratungsverein Kommrum, die Kurzanamnese, die er und seine Kolleginnen und Kollegen vornehmen. Danach werde geprüft, was die Bedürfnisse der Neuankömmlinge sind, ob die finanzielle Versorgung sichergestellt ist, welche Anträge gestellt werden müssen und ob sie einen Kitaplatz brauchen. Wenn das geklärt ist, werden die Betroffenen an die entsprechenden Stellen verwiesen.

Der Bundesweiten Arbeits­gemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer zufolge haben etwa 30 Prozent der Geflüchteten psychosozialen Versorgungsbedarf.

Das Problem: Bei vielen der Geflüchteten kommt diese niedrigschwellige Betreuung nicht an. Denn für dieses Jahr wurden die Mittel für die mobile psychosoziale Beratung stark gekürzt. In Friedrichshain-Kreuzberg hat Kommrum seine aufsuchende Arbeit daher Anfang des Jahres eingestellt. Statt an Ort und Stelle in den Flüchtlingsunterkünften die Menschen zu beraten, müssen diese nun von sich aus Hilfe suchen. »Der Weg in stationäre Beratungsstellen ist für viele Geflüchtete schwer und es besteht die Gefahr, dass der Kontakt verloren geht«, sagt Wenzel der Jungle World. Dabei seien unter den Geflüchteten viele mit Flucht- und Kriegstraumata, die professio­nelle Hilfe brauchen – nicht nur bei den Neuankömmlingen aus der Ukraine, sondern auch bei den Zehntausenden, die bereits vorher in den deutschen Flüchtlingsunterkünften lebten.

Der Kreisverband der Arbeiterwohlfahrt in Berlin-Mitte betreibt im Auftrag der Senatsverwaltung seit vielen Jahren Unterkünfte für geflüchtete Menschen. Sieben Unterkünfte sind es derzeit in Berlin, darunter eine Unterkunft für besonders Schutzbedürftige. Ab dem 1. Mai soll noch eine Einrichtung für ukrainische Geflüchtete im Wedding dazukommen, für diese Gruppe werden derzeit zudem Wohnungen in Lichtenberg angemietet.

»Der Großteil der Menschen aus der Ukraine ist traumatisiert. Es gibt einen hohen Bedarf bei Psychotherapien und psychosozialer Unterstützung«, sagt der Vorsitzende der AWO Mitte, Manfred Nowak, der Jungle World. Dieser Bedarf könne mit dem personellen Betreuungsschlüssel, den das ­Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) zur Verfügung stellt, jedoch kaum abgedeckt werden. Für die sieben Unterkünfte stünden gerade einmal sechs halbe Stellen für Psychologen zur Verfügung – viel zu wenig, meint Nowak. Hinzu komme, dass traumatisierte Flüchtlinge oftmals monatelang auf einen Therapieplatz ­warten müssen. Dabei sei hier schnelle Hilfe nötig. »Es ­besteht die Gefahr, dass traumatische Erfahrungen in eine chronische Erkrankung übergehen«, so Nowak.

Ein weiteres Problem sieht der stellvertretende Landesvorsitzende der AWO in der Bereitstellung von Sprachmittlerinnen; Dolmetscherkosten für psychotherapeutische Sitzungen werden nicht von der Krankenkasse übernommen. Das LAF schreibe für eine Behandlung jedoch eine offizielle Dolmetscherinnentätigkeit vor. »Es ist nicht möglich, dass Freunde oder Bekannte übersetzen, es müssen offizielle Dolmetscher sein«, kritisiert Nowak. Diese sind jedoch rar, oftmals sind es Ehrenamtliche, die hier aushelfen. Nowak fordert daher, die Behandlung von traumatisierten Menschen in die Regelversorgung einzubeziehen. Zurzeit sei in der psychosozialen Beratung die Abhängigkeit von Projektmitteln und Spenden groß. »Das müsste durch staatliche Finanzierung abgesichert sein, denn der Bedarf wird stark ansteigen.«

Oft zeigt sich der Bedarf nach therapeutischer Hilfe erst nach einiger Zeit, wenn grundlegende Fragen der Unterbringung und Verpflegung geklärt sind. Auch weil zu den Kriegstraumata die psychische Belastung durch die ­Unsicherheit im Asylverfahren hinzukommt. Die Folge sind Depressionen, Angstzustände und Suizidgedanken. Die Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) geht davon aus, dass 30 Prozent der Flüchtlinge psychosozialen Versorgungsbedarf haben. Dieser könne jedoch gar nicht abgedeckt werden, meint der BAfF-Geschäftsführer Lukas Welz: Rund einer halben Million Menschen, die bundesweit eine psychosoziale Versorgung benötigten, stünden Kapazitäten für gerade einmal 25 000 Menschen gegenüber.

»Flüchtlinge haben Anspruch auf psychotherapeutische Hilfe, dem wird ­jedoch nicht nachgekommen, weil es keine Kapazitäten gibt«, sagt Welz der Jungle World. Hinzu komme, dass nur drei Prozent der Therapien von den Krankenkassen übernommen würden. »Sozialämter sehen in Therapien keine notwendige Versorgung«, kritisiert Welz. Die so entstehende Versorgungslücke würden unter anderem die bundesweit 47 psychosozialen Zentren füllen, die sich aus Landes- und Bundesmitteln sowie Spenden finanzieren.

In Berlin sei man deutlich besser auf die psychischen Bedürfnisse der Ankommenden vorbereitet als im Jahr 2015, heißt es aus dem Hause der Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales, Katja Kipping (Linkspartei). So gebe es mittlerweile in jedem Bezirk eine oder mehrere psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen. Seit 2020 gebe es zudem am Ankunftszentrum in Reinickendorf eine Psychosoziale Erstdi­agnostik- und Verweisberatungsstelle. Sprachmittlungsleistungen könnten vom öffentlichen Gesundheitsdienst sowie dem bezirklichen psychosozialen Versorgungssystem kostenfrei abgerufen werden. Diese müssten angesichts der aktuellen Lage allerdings ausgeweitet werden, sowohl für Ukrainisch als auch, mit Blick auf afghanische Flüchtlinge, für Paschtu, Dari und Farsi. Neben den Regelversorgungsstrukturen fördere die Senatsverwaltung für In­tegration und Soziales auch Träger der flucht-, folter- und traumaspezifischen psychosozialen Versorgung sowie das Berliner Netzwerk für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge. »Die aktuelle und sicher noch länger anhaltende dynamische Fluchtmigration stellt die bestehenden Strukturen jedoch vor eine Belastungsprobe«, so ein Sprecher der Behörde zur Jungle World.

Über den vom Berliner Senat beschlossenen Haushalt für die Jahre 2022 und 2023 wird derzeit noch im Abgeordnetenhaus verhandelt. Dem Vernehmen nach wird dabei wegen der gegenwärtigen Entwicklungen auch eine Erhöhung der Mittel für psychosoziale Angebote für Geflüchtete erwogen. Die aufsuchende Beratung und die Begleitung Geflüchteter durch psychosoziale Fachkräfte, von denen viele selbst Migrations- beziehungsweise Fluchterfahrung haben und einschlägige Sprachkenntnisse mitbringen, sind einem Sprecher der Senatsgesundheitsverwaltung zufolge »ein Erfolgsmodell, das sich über das zu erwartende Maß hinaus bewährte«. Ein Teil der Mittel für diese Angebote sei verstetigt worden, über die weitere Finanzierung werde derzeit im Rahmen der Haushaltsberatungen im Abgeordnetenhaus und in den Fachausschüssen beraten. »Der Bedarf ist da, er kann derzeit nur nicht in Gänze abgedeckt werden, weil die Leistungen sukzessive weggekürzt wurden«, sagt Christian Wenzel. Er hofft auf eine Aufstockung der Mittel, damit auch in Friedrichshain-Kreuzberg wieder mobile Teams für Geflüchtete eingesetzt werden können.

Wo Fachkräfte fehlen, müssen oft Ehrenamtliche einspringen, die in Berlin derzeit oft an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Dass freiwillige Helferinnen und Helfer auf Dauer gut ausgebildetes Personal nicht ersetzen können, weiß auch die Senatsgesundheitsverwaltung. »Im Zusammenhang mit der großen Anzahl ankommender geflüchteter Menschen aus der Ukraine ist aus fachlicher Sicht der Aufbau spezifischer mi­grationsgesellschaftlicher und sprachlicher Kompetenzen innerhalb der ­Regelversorgungsstrukturen erforderlich«, heißt es. Es müsse mit einem Anstieg des psychosozialen Versorgungsbedarfs wegen Traumafolgestörungen im weiteren Kriegsverlauf gerechnet werden. Daher sei auch der Zugang zu höherschwelligen psychiatrischen und psychotherapeutischen Angeboten von Bedeutung.

Nicht alle Probleme der Geflüchteten erfordern jedoch eine Therapie, oft würden schon bessere Rahmenbedingungen helfen. »Für viele wäre es gar nicht notwendig, eine Therapie zu beginnen, wenn sie besser untergebracht würden«, meint der BAfF-Geschäftsführer Lukas Welz. »Jemand, der mit traumatischen Erfahrungen kommt, braucht Sicherheit und Stabilität, und das ist in Flüchtlingsunterkünften nicht gewährleistet.« Hinzu kämen Erfahrungen mit Rassismus, die die Schutzsuchenden zusätzlich belasteten.