Homestory

Homestory #8

Nun also doch. Es wäre ohnehin geschmacklos gewesen, zu wetten, ob Russland jetzt angreift oder nicht; Wetteinsätze werden in der Redaktion nur eingesammelt, wenn es um den Ausgang von vergleichsweise harmlosen Veranstaltungen wie Fußballweltmeisterschaften geht. Im vorliegenden Fall wäre es aber auch schwierig gewesen, sich zu entscheiden. Es ist ein gewisser Trost, dass es den ­Expertinnen und Experten von Think Tanks und Regierungen nicht anders ging. Und die Geschäftswelt lag natürlich falsch. »Investoren wetten, dass ukrainisch-russischer Krieg abgewendet wird«, titelte das Wall Street Journal am 11. Februar. Aber was von der Weitsicht der Investoren zu halten ist, weiß man ja spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008.

Die Boomer in der Redaktion erinnern sich mit einer gewissen Wehmut an die Zeit, in der die Kreml-Astrologie fast eine exakte Wissenschaft war. Im strikt hierarchisch abgestuften System der Sowjetunion war es beispielsweise signifikant, wenn ein Funktionär nicht seinem Rang entsprechend gewürdigt wurde, also in der offiziellen Presse nur »lang anhaltender Applaus«, nicht aber »lang anhaltender, nicht enden wollender Applaus« nach seiner Rede vermerkt wurde. Man wusste dann, dass sein Stern sank. Das war bizarr, aber durchschaubar. Nun lässt Wladimir Putin für eine Fernsehaufführung sein politisches Personal wie Schuljungen vor dem Rektor platzieren, gleich in ihrer Unterwerfung vor dem Präsidenten treten sie einer nach dem anderen vor, um ihm zu bestätigen, wie recht er hat. Die meisten schauen dabei sehr traurig drein. Geheime Zweifel? Bereut manch einer womöglich gar, die Mahnung »Augen auf bei der Berufswahl!« nicht beachtet zu haben? Für eine neue Kreml-Astrologie ist die Mimik allerdings noch keine ausreichende Grundlage.

Wachsende Probleme bereitet auch die Willy-Brandt-Haus-Astrologie. Wird Bundeskanzler Olaf Scholz versuchen, Nord Stream 2 zu retten? Oder muss die Frage lauten: Wie wird Bundeskanzler Olaf Scholz versuchen, Nord Stream 2 zu retten? Und was macht eigentlich Gerhard Schröder? Hat er sich in Putins Weinkeller verlaufen? Zu den von der EU geplanten Sanktionen gehört auch die Sperrung der Konten von Vertretern der russischen Energiewirtschaft, und der ehemalige Kanzler steht bei zwei dieser Unternehmen und wohl bald bei einem dritten auf der Gehaltsliste. Gewiss, an sich soll man nicht schadenfroh sein, das ist ein schlechter Charakterzug, aber in begründeten Ausnahmefällen …