Köpfen oder wegsperren
Es war unerwünschter Besuch, den Familie Jangulbajew am Abend des 20. Januar erhielt. In ihre Wohnung im russischen Nischnij Nowgorod drang gewaltsam eine Gruppe Männer ein. Einer wies sich als Polizist aus Tschetschenien aus. Sie hatten es auf Sajdi Jangulbajew und seine Frau Sarema Musajewa abgesehen. Für eine Zeugenvernehmung in einem Betrugsfall sollten sie nach Tschetschenien überführt werden, in jene autonome Republik im Nordkaukasus, aus der sie 2017 nach Nischnij Nowgorod geflohen waren. Dabei hatten die Eheleute weder eine Vorladung erhalten noch etwas zu der Angelegenheit zu sagen. Zudem waren die Männer gar nicht befugt, die Wohnung zu betreten.
Als ehemaliger Richter am Obersten Gericht Tschetscheniens verfügt Jangulbajew über einen besonderen Status und darf strafrechtlich nicht belangt werden. Dennoch verweigerte die lokale russische Staatsschutzabteilung ihre Unterstützung und schickte schließlich eine Polizeipatrouille vorbei, die für die Übergabe von Sarema Musajewa in die Hände der tschetschenischen Kollegen sorgte. Die 53jährige leidet an Diabetes und befindet sich mittlerweile wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt in Untersuchungshaft. Ihr Mann und die ebenfalls in der Wohnung lebende Tochter haben Russland verlassen, andernfalls würde ihnen ein ähnliches Schicksal drohen. Den Söhnen der Eheleute, Ibragim und Abubakar Jangulbajew, wirft das Regime vor, hinter regierungskritischen Social-Media-Kanälen zu stecken, die unter anderem über Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien berichten.
»Kadyrow nennt uns nicht zum ersten Mal Terroristen und auch nicht zum letzten Macal.« Oleg Chabibrachmanow, Komitee gegen Folter, Bereich Recherche
Ramsan Kadyrow, der Tschetschenien seit 2007 diktatorisch regiert, kommentierte den Vorfall in seinem offiziellen Telegram-Kanal mit den Worten, dass »diese Familie ein Platz im Gefängnis oder unter der Erde« erwarte. Außerdem forderte er, Sajdi Jangulbajew dessen Status zu entziehen und damit auch dessen Immunität aufzuheben. Dafür bräuchte es eine sehr gute Begründung, denn Bundesrichter in der russischen Teilrepublik Tschetschenien werden vom russischen Präsidenten ernannt. Aber das zuständige Richterkollegium wusste sich zu helfen und bescheinigte dem in Ungnade gefallenen ehemaligen Kollegen, er tue alles, um Zwietracht in der tschetschenischen Gesellschaft zu säen. Juristisch stichhaltig ist diese Formulierung nicht, doch Präsident Kadyrows Wunsch und Befehl stehen in der Republik offensichtlich über dem Gesetz.
In Tschetscheniens Hauptstadt Grosny gingen am 2. Februar Tausende Männer auf die Straße und verbrannten Plakate mit Fotos der Jangulbajews. Mit Drohungen gegen die Familie wartete auch der tschetschenische Duma-Abgeordnete Adam Delimchanow auf, ein enger Mitarbeiter von Kadyrow. Allerdings existieren verschiedene Interpretationen seiner Hassrede in tschetschenischer Sprache auf Instagram. Die einen sagen, Delimchanow habe angekündigt, der Familie die Köpfe abzuschlagen, die anderen, dass es sich lediglich um eine abstrakte Kampfansage gehandelt habe. Eine bittere Lektion haben viele Tschetscheninnen und Tschetschenen jedoch längst gelernt: Auf die Worte der Machthaber folgen Taten. Menschen verschwinden, werden gefoltert, getötet.
In Moskau weiß man zu den gewalttätigen Eskapaden der tschetschenischen Herrscherclique wenig zu sagen. Kreml-Pressesprecher Dmitrij Peskow sprach den Vorgängen in Nischnij Nowgorod zunächst den Wahrheitsgehalt ab und sagte dann, Blutrache sei für die Region typisch, diese Tradition stehe aber in keinem Verhältnis zur russischen Gesetzgebung. Kadyrow appellierte derweil an die Strafverfolgungsbehörden, sich der oppositionellen Zeitung Nowaja Gaseta, des Internetsenders TV Rain und des Menschenrechtlers Igor Kaljapin, bis vor kurzem noch Vorsitzender des Komitees gegen Folter, anzunehmen. Als »Terroristen oder Terrorhelfer« beschimpfte er sie.
»Kadyrow nennt uns nicht zum ersten Mal Terroristen und auch nicht zum letzten Mal«, sagt Oleg Chabibrachmanow, der beim Komitee gegen Folter für den Bereich Recherche verantwortlich ist, im Gespräch mit der Jungle World. Er hat langjährige Erfahrung mit der Aufdeckung und Verhinderung schwerer Menschenrechtsverletzungen. Das Komitee mit seinem Hauptsitz in Nischnij Nowgorod hat schon etlichen Personen Schutz und Unterkunft geboten, die sich in Tschetschenien in Lebensgefahr befanden. Doch absolute Sicherheit garantieren kann die Organisation nicht. »Mich wundert nicht, dass Tschetschenen hier festgenommen und weggebracht worden sind. Das eigentlich Verwunderliche an der Angelegenheit ist, dass sie in die Wohnung eines föderalen Richters eingedrungen sind, der von Rechts wegen Immunität genießt.«
2017 wandte sich die Familie Jangulbajew an das Komitee, weil sie Tschetschenien verlassen musste. Zwei Jahre zuvor hatte der Vater seinen Posten am Obersten Gericht der Republik verloren, der ihm ohnehin zur Last geworden war, weil es ihm oblag, unrechtmäßige Urteile der unteren Instanz abzusegnen. Damals zitierte Kadyrow ihn und zwei seiner Söhne, Abubakar und Ibragim, in seine Residenz, um ihnen die Leviten zu lesen. Ibragim verbrachte später ein halbes Jahr in einem Polizeikeller, weil er einen Social-Media-Kanal mit 5 000 Followern administrierte, in dem über Verbrechen der russischen Truppen während des Tschetschenien-Kriegs berichtet wurde. Kadyrow missfiel diese Offenheit. Nach einer kurzen krankheitsbedingten Freilassung saß Ibragim weitere anderthalb Jahre in Untersuchungshaft.
Abubakar begann, für das Komitee zu arbeiten, kritisierte offen die tschetschenische Führung, berichtete von Folter und davon, dass über ein Dutzend seiner Angehörigen spurlos verschwunden seien. Kurz vor Neujahr tauchte Polizei in seiner Wohnung in Pjatigorsk auf, dem Verwaltungssitz des Föderationskreises Nordkaukasus, wo das Komitee ein Büro unterhält. Beide Brüder sind mittlerweile ins Ausland geflüchtet.
Auch Jelena Milaschina hat Russland verlassen. Die Journalistin berichtet seit Jahren für die Nowaja Gaseta über die Zustände in Tschetschenien und ist deshalb den dortigen Machthabern ein Dorn im Auge. Sie stellte den Fall Jangulbajew in einen größeren politischen Zusammenhang. Ende Dezember berichteten fünf im Ausland lebende junge Tschetschenen von Entführungen ihrer Angehörigen. Diese sind de facto Geiseln, so wie Sarema Musajewa. Ihr Sohn Ibragim Jangulbajew soll nach Ansicht der tschetschenischen Strafverfolgungsbehörden vor zwei Jahren den Telegram-Kanal 1Adat eingerichtet haben, der sich zu einem zentralen Medium junger Gegnerinnen und Gegner des Regimes von Kadyrow entwickelt hat.
Ein anderer anonymer Kanal veröffentlicht Informationen über Besitztümer und den Aufenthalt tschetschenischer Ordnungskräfte in der Türkei. Mordanschläge und Übergriffe auf Tschetscheninnen und Tschetschenen sind dort keine Seltenheit. Als einer der Auftraggeber gilt den türkischen Behörden der Duma-Abgeordnete Delimchanow. Im September tauchte aber auch ein in der Türkei aufgenommenes Video auf, das zeigt, wie einer von Kadyrows Handlangern, der bis 2019 im Achmat-Kadyrow-Regiment gedient hatte und in die Türkei gekommen war, um Tschetschenen zur Rückkehr nach Tschetschenien zu bewegen, von Unbekannten angegriffen wurde. Die Journalistin Milaschina kommt wegen solcher Berichte zu dem Schluss, Kadyrow sehe sich hier erstmals mit einer Situation konfrontiert, die sich seiner ansonsten umfassenden Kontrolle entzieht.
Das Komitee gegen Folter ist in mehreren russischen Regionen aktiv, in denen gravierende Menschenrechtsverletzungen begangen werden, aber Tschetschenien fällt aus dem Rahmen. Mitglieder des Komitees suchen die Republik zwar auf, aber eine Übernachtung dort ist tabu. Strafanzeigen will dort niemand stellen, viele Menschen wollen weg, am besten nach Europa. Kadyrow demonstriert volle Loyalität zur russischen Regierung und gilt ihr als Garant für relative Ruhe und Ordnung. Der Menschenrechtler Chabibrachmanow sieht die Zukunft pessimistisch: »Die Gefahr bei systematischen Menschenrechtsverstößen besteht darin, dass der Staat eine Grenze überschreitet, was richtungsweisend für die weitere Entwicklung ist. Irgendwann frisst das System den Staat auf.«