Ein Gespräch mit Igor Kossov und Max Hunder von der Zeitung »Kyiv Independent« über Pressefreiheit in der Ukraine

»Viel Einfluss von Oligarchen«

Im November 2021 entließ der Eigentümer der »Kyiv Post« die gesamte Redaktion, der Kossov und Hunder angehörten. Die meisten Medien des Landes werden von Oligarchen kontrolliert, doch staatliche Regulierungsversuche werfen Probleme auf.
Interview Von

Am 8. November 2021 hat der Immobilienunternehmer und Eigentümer der ukrainischen Wochenzeitung Kyiv Post, Adnan Kiwan, die gesamte Redaktion entlassen, der auch Sie beide angehörten. Was hat zu diesem Schritt geführt?

Kossov: Das Ganze hatte mindestens ein Jahr Vorlauf. Es fing damit an, dass wir zwei kritische Artikel über die Unzulänglichkeiten der Generalstaatsanwältin (Iryna Wenediktowa, Anm. d. Red.) veröffentlichten. Danach veröffentlichte die Kyiv Post eine Reihe von Leitartikeln der Generalstaatsanwältin selbst. Wir waren der Meinung, dass sie nicht von höchster Qualität waren, und wir fragten uns, warum die Zeitung so viele davon veröffentlichte. Es stellte sich heraus, dass die Generalstaatsanwältin mit einer Klage gedroht hatte.

»Die meisten Menschen trauen den staatlichen Regulierungsbehörden nicht mehr als den Oligarchen.« Igor Kossov

Im Herbst 2021 stießen wir dann auf einen Social-Media-Post, in dem stand, dass Kiwan eine ukrainischsprachige Ausgabe der Kyiv Post mit der Fernsehmoderatorin Olena Rotari, die für Kiwans Fernsehsender Kanal 7 in Odessa arbeitete, als Verantwortlicher herausgeben wolle. Wir waren darüber nicht informiert worden. Es folgten viele Verhandlungen, wie diese Erweiterung aussehen würde. Als wir dann am 8. November zur Arbeit kamen, sagte Brian Bonner (der damalige Chefredakteur, Anm. d. Red.), dass es ein Treffen geben werde. Einige von uns konnten nicht mehr auf das Redaktionssystem zugreifen, der Zugang zur Website funktionierte nicht. Beim Treffen sagte Bonner, Kiwan werde alle entlassen und die Zeitung mit sofortiger Wirkung schließen.

Hunder: An der geplanten Einstellung von Olena Rotari erschreckte uns am meisten, dass Kanal 7 redaktionell nicht unabhängig ist. Daher waren wir wirklich besorgt, dass uns die Ernennung einer ehemaligen Führungskraft von Kanal 7 ohne vorherige Absprache aufgezwungen werden sollte.
Kossov: Kiwan hat sich vielleicht gedacht: Die Ausländer bekommen ihre englischen Nachrichten, aber das ukrai­nische Publikum erhält maßgeschneiderte Versionen von diesen.

Kiwan hatte die Kyiv Post 2018 ­gekauft. Hatte es seither Versuche gegeben, redaktionelle Entscheidungen zu beeinflussen?

Kossov: Er machte Kommentare und versuchte, sie so klingen zu lassen, als hätten sie ein humoristisches Element. Er ließ uns wissen, dass einige unserer Berichte ihn und seine Interessen verletzten. Er sagte: »Schweigen ist Gold.« Aber weder ich persönlich noch Personen, die ich kenne oder mit denen ich direkt zusammenarbeitete, haben von direktem Druck durch Kiwan berichtet. Ich glaube, er hat nicht ganz verstanden, was er kauft, als er die Zeitung erwarb. Wir wurden von der Regierung unter Druck gesetzt, aber nicht von Kiwan direkt. Das war eine neuere Entwicklung.

Was hat Kiwans Haltung zur redaktionellen Unabhängigkeit der Kyiv Post verändert?

Hunder: Die Geschichte mit Wenediktowa ist hier von Bedeutung. Es hat eine Weile gedauert, bis sie in ihrer endgültigen Form herauskam. Der Hauptgrund für die Schließung war, dass Kiwan eine Zeitung haben wollte, die ihn nicht in Verlegenheit bringen oder ihm Probleme mit Leuten in der Regierung bereiten würde, mit denen er als erfolgreicher Geschäftsmann vielleicht zusammenarbeiten muss.
Wir versuchten monatelang, Wenediktowa für ein Interview zu gewinnen, bei dem kein Thema tabu sein sollte. Am 3. September 2021 veröffentlichten wir einen Artikel, in dem wir eine ehr­liche und kritische Bilanz ihrer eher unergiebigen Amtszeit als Generalstaatsanwältin zogen. Am Tag danach eröffnete sie mehrere Gerichtsverfahren gegen andere Unternehmen von Kiwan. Das hat Bonner der Ukrainian Weekly bestätigt, und es ist uns auch gelungen, es von einer zweiten, anonymen, von Bonner unabhängigen Quelle bestätigen zu lassen.

Für mich ist es ziemlich klar, dass dies der Moment war, in dem Kiwan beschloss, dass es genug sei und dass die unabhängige Kyiv Post ihm bei seinen anderen Geschäftsin­teressen einfach zu viel Kopfschmerzen bereite.

Das Ende der Kyiv Post, wie man sie kannte, passt zu dem Druck, der auf Journalisten in der Ukraine ausgeübt wird. Die meisten Medien sind im Besitz von Oligarchen. Welche Auswirkungen hat das auf die ­Arbeit des unabhängigen Journalismus?

Kossov: Wenn man unabhängig von Oligarchen sein will, bekommt man nicht das Geld, das man braucht. Selbst eine kleine Publikation wie die Kyiv Post war ziemlich teuer und erforderte einen großen Beitrag von Kiwan. Er finanzierte etwa die Hälfte des Budgets, den Rest trug die Werbeabteilung bei.

In der Ukraine gibt es viel mehr Freiheit für die Medien als in einigen anderen postsowjetischen Ländern, aber es gibt eben auch viel Einfluss von Oli­garchen. Die meisten Menschen beziehen ihre Nachrichten aus dem Fernsehen, und die Fernsehsender sind größtenteils im Besitz von Oligarchen. Man hat mir gesagt, dass im Durchschnitt etwa alle fünf Tage gegen einen Journalisten Gewalt angewendet wird. (Der NGO Institute of Mass Information zufolge gab es 2020 229 Verstöße gegen die Pressefreiheit, darunter 171 Fälle von physischer Aggression gegen Journalisten, Anm. d. Red.)

Im November unterzeichnete Präsident Wolodymyr Selenskyj das sogenannte Anti-Oligarchen-Gesetz, das offiziell darauf zielt, den Einfluss der Oligarchen in den Medien und der Politik einzuschränken. Ein weiteres, viel kritisiertes Mediengesetz soll offenbar Ende 2022 verabschiedet werden. Wie hängt dies mit den jüngsten Entwicklungen zusammen?

Kossov: Viele Journalisten haben sich über diese Gesetze kritisch geäußert. Insbesondere das Mediengesetz soll dem Nationalen Rat für Fernsehen und Rundfunk ein gefährliches Maß an Macht verleihen. Man entzieht den Oligarchen die Macht und will sie an eine staatliche Regulierungsbehörde abgeben. Die meisten Menschen trauen den staatlichen Regulierungsbehörden nicht mehr als den Oligarchen. Der Rat soll in der Lage sein, Medienlizenzen und -registrierungen zu widerrufen, Redaktionen zu verpflichten, sich einer Inspektion zu unterziehen, aber auch eine gewisse Befugnis zur Bestrafung von Website-Betreibern erhalten. Eine Quelle sagte mir, er sei dem Präsidenten gegenüber loyal (die eine Hälfte der acht Mitglieder des Rats wird vom Parlament bestimmt, die andere Hälfte direkt vom Präsidenten, Anm. d. Red.); viele seiner Mitglieder hätten in der Vergangenheit mit Selenskyjs Unterhaltungsunternehmen Kvartal 95 Studio oder mit der Mediengruppe des Oligarchen Ihor Kolomojskyj zusammengearbeitet, die Inhalte von Kvartal 95 ausstrahlt.

Die Versuche, Medien zu kontrollieren, häufen sich, nicht nur die der Oligarchen, sondern auch unabhängige. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Kossov: Ich weiß nicht, ob das systematisch geschieht, aber es gibt viele Möglichkeiten: Man kann bestimmte Medien für bestimmte Ereignisse akkreditieren und andere nicht; man kann einigen Interviews geben und anderen nicht; man kann gegen einige von ihnen Strafverfahren einleiten, etwa wenn es sich um eine Wenediktowa handelt. Man kann gegen jemanden ein Ermittlungsverfahren einleiten, indem man vielleicht etwas aus seiner Vergangenheit ausgräbt. Es gibt viele Möglichkeiten, Medien beziehungsweise Jour­nalisten zu belohnen oder zu bestrafen, wenn sie nicht tun, was man von ihnen will.

Ist diese Art von Beeinflussung in den vergangenen Monaten stärker ausgeübt geworden?

Kossov: In Hinblick auf die Wahlen 2024 ist die generelle Einschätzung, dass die Partei des Präsidenten und seine Regierung keine so gute Medienpräsenz haben, wie sie benötigen. Vielleicht haben sie nicht genug Medien, die sie als ihre eigenen bezeichnen können. Petro Poroschenko (Präsident von 2014 bis 2019, Selenskyjs Vorgänger und möglicher Konkurrent bei den Wahlen 2024, Anm. d. Red.) hingegen ist ein Oligarch und verfügt über Medienkanäle, die er zu seinem Vorteil nutzen kann.

Wahrscheinlich ist das Büro des Präsidenten zu dem Schluss gekommen, dass es nicht genug Kontrolle über die Medien hat und mehr davon braucht. Da die Wahlen näherrücken und die Lage in der Ukraine derzeit sehr angespannt ist, denken dessen Berater wahrscheinlich, sie müssten in der Lage sein, gegen die Medien vorzugehen und sich ihre Berichterstattung und ihren Einfluss zu sichern.

 

Igor Kossov und Max Hunder

Igor Kossov ist leitender Nachrichtenredakteur beim »Kyiv Independent« und war vorher Redakteur bei der »Kyiv Post«, der vormals wichtigsten unabhängigen Wochenzeitung der Ukraine in englischer Sprache.

Max Hunder ist Wirtschaftsreporter beim »Kyiv Independent«. Zuvor arbeitete er als Wirtschaftsreporter bei der »Kyiv Post« mit den Schwerpunkten Infrastruktur und Energie.