Ein Gespräch mit Sylvia Kotting-Uhl, ehemalige Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit

»Atomenergie und Demokratie sind nicht kompatibel«

Schwieriger Ausstieg. Sylvia Kotting-Uhl spricht über die deutsche Atomausstiegsdebatte.
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Auf einmal gibt es wieder eine ­Debatte über Atomenergie. Glauben Sie, dass Atomkraft eine Zukunft hat?

Nein. Die Atomenergie mit allem, was dazugehört, ist einfach viel zu teuer. Während die erneuerbaren Energien mit jedem technologischen Fortschritt ­billiger werden, verhält es sich bei der Atomenergie umgekehrt. Atomstrom ist der teuerste Strom der Welt, auch ohne dass sich das mit ihm verbundene Risiko realisiert. Wenn dann noch, wie in Japan geschehen, ein Unglück dazu kommt, sprengt das jede Kalkulation. Doch die Weltmächte, die über Atomwaffen verfügen, brauchen den nuklearen Brennstoffzyklus. Sie wollen die zivile Nutzung der Atomkraft beibehalten, um an waffenfähiges Nuklearmaterial zu kommen. Für sie wird es umso günstiger, wenn der Rest der Welt dabei mittut. Deswegen ge­hören beispielsweise Frankreich und Großbritannien zu den treibenden Kräften, die diese Debatte angefacht haben.

»Wir müssen so schnell wie möglich raus aus beidem, sowohl aus der Kohle als auch aus der Atomkraft.«

Ist es nicht zynisch, zukünftige Reaktoren in Aussicht zu stellen, die angeblich keinen Atommüll produzieren und endlich sicher sein sollen?

Es gibt interessant klingende Forschungsprojekte, aber es sind eben nur Papierreaktoren. Vieles von dem, was jetzt als neue Lösung präsentiert wird, war schon mal da: Die Ruinen eines mit Natrium gekühlten Reaktors oder eines Thoriumreaktors können in Kalkar, Hamm-Uentrop oder Jülich besichtigt werden. Sie haben viel Geld verschlungen und sind eine bleibende Mahnung, dass die sogenannten fortgeschrittenen Konzepte in der Realität nicht so einfach umzusetzen sind. Vor allem haben wir nicht die Zeit für phantastische Experimente. Bis 2050 müssen wir klimaneutral sein. Von all diesen Reaktoren wird aber keiner im Jahr 2050 in Betrieb sein und die damit verbundenen Versprechen erfüllt haben. Deswegen hat es keinen Sinn, Klimaschutzmaßnahmen auf diese Technik zu verschieben, denn wenn sie – falls überhaupt – einmal kommen sollte, wird es viel zu spät sein.

In den USA, Frankreich und Großbritannien stellt der Staat öffent­liche Mittel für solche Projekte zur Verfügung. In Deutschland auch?

Ja, allerdings sind es in Deutschland überschaubare Summen. Sehr viel mehr Geld zahlen wir jedoch über die EU auf der Basis des Euratom-Vertrags. Die erheblichen Mittel, die Euratom zur Verfügung stehen, werden großenteils in die Entwicklung von neuen Reaktoren, Kernspaltung und Kernfusion, gesteckt. Daran ist Deutschland als größter Beitragszahler mit 20 Prozent beteiligt.

Das war ein Thema im Koalitionsvertrag vor vier Jahren. Diese wenig bekannten Nuklearsubventionen sollten beendet oder wenigstens vermindert werden, hieß es. Geschehen ist das nicht.

Die Initiative kam damals von der SPD, die in diesen Fragen theoretisch nicht so weit von uns entfernt ist. Den Euratom-Vertrag zu verändern, ist in der Tat nicht einfach. Er stammt aus dem Jahr 1956 und gehört zu den Fundamenten der EU. In seiner Präambel bestimmt er den Aufbau einer mächtigen Nuklearindustrie als Ziel. Das ist inzwischen komplett aus der Zeit gefallen, aber die Atommächte Frankreich und Großbritannien widersetzen sich bisher einer Reform. Sie erhalten immer stärkere Unterstützung von den osteuropäischen Mitgliedsländern, die sich von US-amerikanischen, russischen oder chinesischen Unternehmen einreden lassen, der nukleare Weg sei der einfachste, um ihren Klimaverpflichtungen nachzukommen. Dort hat die Atomenergie immer noch den Nimbus, dass man zu den ganz Großen gehört, wenn man über sie verfügt. Ich hoffe, dass die Grünen und die SPD in der neuen Regierung einen Vorstoß zur Änderung dieses Vertrags unternehmen. Euratom ist spätestens seit Fukushima nicht mehr tragbar.

Wenn aber die EU-Kommission Atomenergie für »nachhaltig« erklärt?

Was sich gerade bei der Einstufung abspielt, ist ein Trauerspiel. Hier rächt sich die defensive Politik der Bundesregierung. Wenn wir den Kohleausstieg vorziehen wollen, werden wir tatsächlich für einige Zeit Gaskraftwerke brauchen – eine Folge der jahrelangen Blockaden gegen die erneuerbaren Energien. Deshalb ließ sich unsere bisherige Regierung von der Aussicht ­verführen, dass die EU-Kommission neben der Atomkraft auch Energie aus Erdgas für nachhaltig erklären könnte. Das ist unglaublich kurzsichtig gedacht. Wie soll man jemals international für den Atomausstieg werben, wenn man selbst neuen Fördermöglichkeiten für die Atomwirtschaft zustimmt? Dadurch könnte sich der Preis für den Atomstrom möglicherweise etwas reduzieren. Für viele Länder ist das – und nicht das Risiko der Nukleartechnik oder der Entsorgung – maßgeblich. Wider besseres Wissen wird der Atomenergie noch einmal der Weg geebnet.

Momentan werden die Stimmen lauter, die behaupten, der Ausstieg sei zu schnell gekommen oder die Reihenfolge falsch – lieber zuerst den Kohleausstieg und danach den Atomausstieg.

Mich ärgert das unhinterfragte Kolportieren der Behauptung, Atomkraft sei ein Beitrag zum Klimaschutz. Denn das stimmt nicht. Zwar ist richtig, dass die CO2-Emissionen bei der Atomenergie viel geringer ausfallen als bei Kohle oder Gas. Das bestreite ich nicht. Was wir aber brauchen, ist eine Energiewende hin zu 100 Prozent erneuerbaren Energien. Sonst ist der weltweite Klimaschutz nicht zu erreichen. Und ab dem Moment, wo die erneuerbaren Energien keine Nische mehr sind, sondern einen großen Anteil am Energiemix stellen – bei uns schon über 40 Prozent –, passt die Atomenergie nicht mehr dazu. Wir sehen es am Windenergieland Schleswig-Holstein: So schnell, wie der Wind kommt, lassen sich Atom- und Kohlekraftwerke gar nicht vom Netz nehmen. Die Folge ist, dass beträchtliche Mengen an Windstrom verloren ­gehen.

Haben die Erneuerbaren ein bestimmtes Niveau erreicht, dann sind Großkraftwerke kein Partner mehr bei der Energieproduktion, sondern ein Klotz am Bein. Sie verstopfen das Stromnetz. Statt schwerfälliger Großkraftwerke sind Netzausbau, Speicher und als backup Wasserkraft und Biomasse die notwendigen Ergänzungen für die erneuerbaren Energien. Unter Fachleuten ist diese Problematik allgemein bekannt. Trotzdem befeuern manche von ihnen die Atomdebatte. Das ist in meinen Augen verlogen. Wir müssen so schnell wie möglich raus aus beidem, sowohl aus der Kohle als auch aus der Atomkraft.

Wie sieht es in Ihrer eigenen Partei aus? Gibt es bei den Grünen eine Verunsicherung über den Atomausstieg? Den jüngeren Mitgliedern fehlt der Wissens- und Erfahrungshorizont der Anti-AKW-Bewegung.

In unserer Partei- und Fraktionsspitze gibt es keine Anfälligkeiten für diese Debatten. Aber ja, es stimmt, dass diejenigen, die sich über die Jahre um Atomkraft und Atomausstieg gekümmert haben, der älteren Generation angehören. Nicht zufällig habe ich in der grünen Bundestagsfraktion das Thema in den vergangenen zwölf Jahren bearbeitet. Junge Mitglieder können mit dem Kampf gegen Atomkraft nicht mehr so viel anfangen. Sie kämpfen gegen den Klimawandel, sie wollen, dass der Kohleausstieg passiert, das ist für sie wichtig und brisant. Daher verstehen sie zum Teil nicht, warum das Atomthema so einen hohen Stellenwert hat.

Vereinzelt wird die Meinung vertreten, wenn sich der Kohleausstieg dadurch beschleunigen ließe, dann solle man die Atomkraftwerke eben als kleineres Übel etwas länger laufen lassen. Aber wirklich laut sind diese Stimmen nicht. Stärker verbreitet ist die Ansicht, das Atomthema sei eigentlich erledigt und daran werde sich auch nichts ändern, wenn Grüne in dieser scheinbar untergeordneten Frage etwas flexibler agieren. Aber man darf sich nicht in Sicherheit wiegen. Das Thema ist erst abgehakt, wenn zum Jahresende 2022 der letzte Meiler abgeschaltet ist und auch die Atomfabriken in Gronau (West­falen) und Lingen geschlossen sind. Es gibt weltweit und auch bei uns einflussreiche Kräfte, die ein Interesse dar­an haben, die Ausstiegsentscheidung rückgängig zu machen.

Vielleicht ist Robert Jungk zu schnell in Vergessenheit geraten. Der meinte, wir hätten es mit einem Atomstaat zu tun. Wenn das richtig ist, darf man sich die Aufgabe nicht zu einfach vorstellen.

Atomenergie und Demokratie sind eigentlich nicht kompatibel. Denn zur Demokratie gehört immer Transparenz, während rund um die Atomkraft ab­solute Intransparenz herrscht. Wenn ich in meiner parlamentarischen Arbeit Unterlagen angefordert habe, habe ich oft seitenweise geschwärzte Dokumente erhalten. Das Risikopotential dieser Anlagen ist so hoch, dass Transparenz nicht möglich ist. Man vergisst zu schnell, wie undurchsichtig die Nuklearindustrie ist. Diese Intransparenz gibt es nur bei der Atomkraft und beim Militär. Auch deswegen werde ich froh sein, wenn das Ganze einmal vorbei ist. Aber es ist noch nicht vorbei.
 

Sylvia Kotting-Uhl

Sylvia Kotting-Uhl saß von 2005 bis zur jüngsten Bundestagswahl für die Grünen im Bundestag. Ab 2018 war sie Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Als profilierte Kritikerin der Atomenergie hat sie sich ein beachtliches Renommee erworben, während dieses Thema in ihrer Partei seine vormals zentrale Bedeutung allmählich verliert.