Die Finanzhilfen der EU könnten auch der Atomindustrie zugutekommen

Die Zukunft muss warten

Die Pläne für einen europäischen »Green Deal« drohen bei der Aufbaufinanzierung der EU unter die Räder zu kommen. Die Atom­industrie hingegen könnte profitieren.

Eine Einigung der EU-Staaten ist auch ohne die traditionell renitenten Briten nicht einfacher geworden. Die Rollenverteilung hat sich allerdings geändert, anstelle Deutschlands sind es nun die Niederlande, Österreich, Dänemark und Schweden, mittlerweile unterstützt von Finnland, die auf Austerität und harten Bedingungen für die Vergabe von Krediten und Hilfsgeldern bestehen. Bei den Verhandlungen über den sogenannten Aufbaupakt wollten diese Länder den Gesamtbetrag reduzieren und den Anteil der Kredite erhöhen, den der Zuschüsse senken; die von diesen Staaten praktizierte Unsitte, für ihre Zustimmung einen Rabatt auf ihre Beitragszahlungen zu erpressen, hatte einst Großbritannien eingeführt.

Der französische Elektrizitäts-konzern Électricité de France SA (EDF) spricht gern von Dekarbonisierung, meint damit allerdings die Nuklearenergie.

Vor allem die von der Pandemie besonders stark betroffenen EU-Staaten Italien und Spanien beanspruchen dringend Hilfszahlungen, über deren Verwendung nicht, wie es einst in Griechenland erzwungen wurde, nach den Maßgaben der EU-Kommission oder internationaler Finanzinstitutionen entschieden werden dürfe. Ungarn und Polen waren, unterstützt von ihren Partnern in der Visegrád-Gruppe, vor allem daran interessiert, die von ihnen als Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtete Prüfung der Rechtsstaatlichkeit bei der Kreditvergabe oder der Auszahlung von Hilfsgeldern zu verhindern.

Angesichts dieser Ausgangslage ist es nicht verwunderlich, dass vor allem über Beträge und Beiträge gestritten und in der Frage der Rechtsstaatlichkeitsprüfung ein fauler Kompromiss geschlossen wurde. Verstöße sollen vom Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit festgestellt werden können, doch die Regeln sind, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Gipfel sagte, noch nicht ausgehandelt. Darin setzt sich die alte Praxis der EU fort, gegensätzliche Positionen unter einem Dach wohlklingender, aber unverbindlicher Absichtserklärungen zusammenzubringen.

Ursprünglich wollte die EU-Kommission, dass die Gelder in das Gesundheitswesen, den Klimaschutz und Zukunftstechnologien investiert werden; das Ziel, eine verheerende Wirtschaftskrise abzuwenden, sollte mit der Stärkung als förderungswürdig eingestufter Branchen verbunden werden. Doch einen konkreten Katalog von Maßnahmen hat die EU-Kommission nicht präsentiert. Der umgekehrte Weg ist gar nicht erst erörtert worden: zunächst eine Einigung über ein europäisches Aktionsprogramm anzustreben und dann über dessen Finanzierung zu verhandeln. Denn dann hätte man sich ja festlegen müssen.

Bei dieser Lage der Dinge läuft der »Green Deal« der EU Gefahr, unter die Räder zu kommen. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, hatte ihn als erste Priorität in ihrer Amtszeit vorgestellt und ihren vormaligen Mitbewerber um die Präsidentschaft, Frans Timmermans, damit beauftragt, ihn auszuarbeiten. Das Programm soll den CO2-Ausstoß in der EU bis 2030 um über 50 Prozent im Vergleich zu 1990 senken. 2050 soll es überhaupt keine Nettoemissionen von Treibhausgasen mehr geben. Wenn dies gelänge, könnte Europa der erste klimaneutrale Kontinent werden.

Timmermans ist EU-Kommissar für Klimapolitik und engagiert sich dafür, diese Ziele beim Wiederaufbau zu beachten. Er hat die Argumente auf seiner Seite, aber unter den führenden EU-Politikern ist er derzeit der einzige, der sich so äußert. Zugleich kursieren Gerüchte, dass sich die Lobbyverbände der Wirtschaft mit Eingaben an die ­Politik die Hände wundschreiben: Der »Green Deal« sei schon vor der Corona­krise sehr teuer gewesen und jetzt überhaupt nicht mehr machbar. Die Konzerne, für die diese Lobbyisten arbeiten, wollen schließlich SUVs verkaufen und nicht Fahrräder. Die Zahl der Krankenhausbetten, das Einkommen und die Ausbildung des medizinischen Personals interessieren sie nicht.

Besonders heftig stoßen die konträren Absichten in der Energiepolitik aufeinander. Hier proklamiert der »Green Deal« eine Dekarbonisierung der Energieversorgung, also den allmählichen Ausstieg aus fossilen Energiequellen. Das kann einen größeren Anteil erneuer­barer Energien bedeuten. Doch der französische Elektrizitätskonzern Électricité de France SA (EDF) meint damit den Ausbau der Nuklearenergie. Anders als Merkel teilt Frankreichs Präsident Emmanuel Ma­cron diese Position bedingungslos. ­Unter den europäischen Regierungschefs findet er in dieser Frage viele Gleichgesinnte.

Die EU-Staaten betreiben zusammengenommen mehr Atomkraftwerke als die USA. Doch lauern hier Probleme, die sich von Tag zu Tag verschlimmern. So gibt es in der EU sechs Reaktoren, die älter sind als die eben stillgelegten ­Blöcke des elsässischen Atomkraftwerks Fessenheim, und weitere drei, die gerade einmal ein Jahr kürzer in Betrieb sind. Sie müssten unverzüglich vom Netz genommen werden, um die Gefahr eines Super-Gau in Europa zu ­senken.

Derzeit werden in der EU vier neue Atomreaktoren gebaut – je ein Europäischer Druckwasserreaktor (EPR) französischer Provenienz in Flamanville (Frankreich) und in Olkiluoto (Finnland) sowie zwei russische Wasser-Wasser-Energie-Reaktoren (WWER) im slowakischen Mochovce. Der EPR in Flaman­ville weist gravierende Mängel am Reaktordruckgefäß und an den Schweißnähten des Röhrensystems auf. Seine Kosten haben sich von ursprünglich 3,4 Milliarden Euro auf mittlerweile 12,4 Milliarden vervielfacht, wobei noch 4,2 Milliarden Kreditkosten (vor allem Zinsen und Gebühren) und 2,5 Milliarden sonstiger Aufwand hinzukommen. Diese Zahlen nennt die ­satirische französische Wochenzeitung Le Canard ­enchaîné unter Berufung auf den jüngsten Bericht des französischen Rechnungshofs. Nicht viel anders sieht es bei dem im Prinzip fertiggestellten Atommeiler in Finnland aus. Bevor er ans Netz geht, wollen die Finnen wissen, was aus dem EPR in Flamanville wird.

Die Slowakei will in Mochovce zwei Reaktoren in Betrieb nehmen, die einer älteren sowjetischen Baureihe angehören und bis 2009 eingemottet waren. Die Beschaffungskosten pro Gigawatt installierter elektrischer Leistung sind bei diesen Reaktoren noch höher als beim EPR.

Atomenergie lässt sich ohne staatliche Subventionen nicht betreiben. Die Aussicht auf Gelder aus dem europäischen Wiederaufbaufonds wird den Appetit der Nuklearenergiekonzerne steigern. Doch eine Förderung von Hochrisikotechnologie aus diesen Mitteln verstößt gegen den rechtsstaat­lichen Standard des Verursacherprinzips. Die 123 derzeit in der EU betrie­benen Atomreaktoren sind nämlich nicht oder höchst unzureichend ver­sichert. Nach dem Reaktorunglück in Fukushima thematisierte die Europäische Kommission diesen befremdlichen Umstand vorübergehend. Jeder Meiler sollte, so der damalige, so­wieso schon unbefriedigende Plan, bis zu einer Schadenshöhe von einer ­Milliarde Euro versichert sein. Ein Vollzug wurde nicht gemeldet.

Bei der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards geht es nicht allein um Themen wie Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz, sondern auch um die Vergabe von Mitteln etwa an die Energiewirtschaft. Der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš, dem vorgeworfen wird, als Unternehmer zugleich Nutznießer von EU-Subventionen gewesen zu sein, ist mit dem Ergebnis des Gipfels zufrieden – das spricht nicht dafür, dass strenge Kontrollen zu erwarten sind.

Keineswegs undenkbar ist die Verwendung von EU-Mitteln für die Subventionierung von klimaschädlichen Branchen wie der Kohleindustrie etwa in Polen. Dass die Ausgaben die Klimaschutzziele der EU »nicht schädigen« sollen, ist eine unverbindliche Formel, ebenso wie die Vorgabe, dass 30 Prozent des EU-Budgets und der Aufbauhilfen für den Klimaschutz ausgegeben werden sollen – dazu kann auch die Modernisierung eines Kohlekraftwerks gezählt werden. Wo es konkret wird, wurden in Laufe der Verhand­lungen vorgesehene Mittel gekürzt. Der Just Transition Fund, der den Übergang zur Klimaneutralität fördern soll, wird mit 17,5 statt 37,5 Milliarden Euro ausgestattet, der ebenfalls maßgeblich für Klimaschutzausgaben vorgese­hene Fonds »Invest EU« erhält nur vier statt 31 Milliarden Euro. Für die Klimaschutzziele der EU ist das kein guter Anfang.