Das Wandern ist des Linken Lust

Alpenglühen und Antifaschismus

In schwitzigen Socken zur Sonne, zur Freiheit – eine kleine Geschichte des Wanderns als sozialistischer Praxis, mit Reisetipps fürs kleine ­Coronabudget.
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Urlaub ist dieses Jahr ein schwieriges Thema. Manche Grenzen sind weiterhin geschlossen, viele Flüge wurden abgesagt und die Coronakrise hat ein tiefes Loch in das Reisebudget gerissen. Was tun? Wandern im Taunus statt Weinchen in Tel Aviv? Das klingt erst mal ziemlich unsexy, nach Heimatdebatte, Folklore und identitären Edgelords in Lederhosen. Dabei waren Wanderer einst progressive Avantgarde im hedonistischen Klassenkampf. Höchste Zeit für eine Wiederentdeckung des sozialen Wanderns: eine Geschichte, die Alpenglühen und Antifaschismus aufs Schönste vereint.

Um zu verstehen, welche Rolle das Wandern für die Arbeiterbewegung einst spielte, muss man das Ende des 19. Jahrhunderts betrachten. Fabrikarbeiter hatten damals durchschnittlich 70 Arbeitsstunden in der Woche. Der Samstag war ein normaler Arbeitstag und am Sonntag hatte man im eigenen Haushalt genug zu tun. So etwas wie bezahlte Urlaubstage gab es höchstens in der etwas progressiveren Druckerbranche. Für eine große Wanderung Haus und Fabrik zurückzulassen, war für viele Arbeiter utopisch. Unter diesen Vorzeichen gründeten sich 1895 in Wien die Naturfreunde, die bürgerlich-völkische Wanderbewegung nachahmend und zugleich als Gegenentwurf zu dieser. Statt romantisch verklärter Bergtouren zum »einfachen Volk« oder »der Seele der Nation« propagierten die Naturfreunde ihr Konzept des »sozialen Wanderns«.

Die Verbindung von Erholung und Fortbildung ist ein sträflich vernachlässigtes Werkzeug der Linken.

»Kein Fleckchen der Erde gehört uns. Wir sind Fremdlinge auf dieser Erde, wir haben keinen Teil an ihr«, schrieb der sozialdemokratische Politiker Karl Renner 1898 in der Vereinszeitschrift Der Naturfreund. Die Gründergeneration der Naturfreunde verstand das Wandern nicht als reine Erholung, sondern als Instrument im Klassenkampf. Es gab sogenannte Trutzpartien durch abgegrenzte ­Gebiete und Privatgelände. Mit dem Selbstbewusstsein, dass das Prole­tariat die Natur nicht besitzt, aber bearbeitet und erneuert, forderten die Naturfreunde ihren Anteil am Freizeit- und Erholungswert der Landschaft und trugen damit die sozialistische Idee aus den industriellen Zentren in die rückständigeren Regionen.

Sozialdemokratische Autoren wie Gustav Hennig sahen im Wandern auch ein Werkzeug zur Aufklärung und Bildung der Arbeiterschaft. »Wer draußen Menschen menschlich nach ihrer Art begegnet, der wird namentlich viel mehr lernen als aus dicken Folianten. Wenn das Schlagwort vom sozialen Wandern nicht nur ein Wort, sondern ein Begriff sein soll, dann kann es nicht bedeuten, dass die Wanderer die Kannegießerei auf Schritt und Tritt üben, sondern dass sie die Augen brauchen, aus den gewonnenen Beobachtungen Schlüsse ziehen und sich angewöhnen, ­tätige, nicht nur redende Menschen zu werden.« Als Kannegießerei bezeichnete man damals politisches Geschwätz ohne viel Sachverstand. Heutzutage würde man in diesem Zusammenhang von Stammtisch­gerede sprechen. Der Austromarxist Max Winter forderte von den roten Wanderern: »Nicht die Zahl der zurückgelegten Kilometer bringe heim, sondern erweiterte Einsicht in das vielgestaltige Leben der Menschen. Das ist soziales Wandern!«

Wanderer im Widerstand
Dass solche Theorien auch praktische Konsequenzen haben, zeigen heutzutage nicht nur die weltweit etwa 1 000 Naturfreundehäuser, in denen man günstig Urlaub machen kann. In der Zeit des Nationalsozialismus stellten Naturfreunde Personal und Infrastruktur für den Widerstand im Untergrund (Berg als Rettung - Bergsteiger, Wanderer und Kletterer halfen bei der Flucht vor den Nazis). Viele Naturfreunde landeten in Konzentrationslagern, wurden verhört und gefoltert, beispielsweise Willi Wohlfeil, der vor dem Verbot unter den Nazis der Rüsselsheimer Gruppe der Naturfreunde vorsaß und glücklicherweise nach dem Nationalsozialismus in dieses Amt zurückkehren konnte.

Der sächsische Naturfreundeverband »Vereinigte Kletterabteilung« war als Widerstandsgruppe 1933 bis 1945 in der Sächsischen Schweiz und im Erzgebirge aktiv. Die Mitglieder brachten Verfolgte über die grüne Grenze und versteckten zur Herstellung einer illegalen Zeitung sogar eine Druckmaschine in einer Gebirgshöhle. In der DDR wurde die Geschichte des kommunistisch geprägten Verbands in der Fernseh­serie »Rote Bergsteiger« verewigt – unter Aussparung des trotzkistischen Flügels, der der SED nicht in den Kram passte. Die Freizeitge­staltung als große gemeinsame Klammer führte dazu, dass ansonsten spaltungsfreudige Linke bei den Naturfreunden friedlich zusammen­arbeiteten. Trotz der Nähe des Verbands zur SPD gehörten ihm in der Weimarer Republik auch viele Kommunisten an. Bei den Protesten gegen die Startbahn West am Frankfurter Flughafen in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts waren sozialdemokratische Naturfreunde ganz vorne dabei im Kampf gegen die sozialdemokratische Landesregierung und auch die Bakuninhütte im südlichen Thüringen mit ihrem anarchistischen Kulturprogramm (Im Schatten der Bretterbude - Im thüringischen Meinigen erinnert man sich an anarchistische Wurzeln) ist heutzutage ein Naturfreundehaus.

Soziales Wandern im 21. Jahr­hundert?
Derzeitige Konzepte des sozialen Wanderns können nicht einfach an die Theorien des späten 19. Jahrhunderts anschließen. Zum Glück ist eine Wanderung durchs Grüne für den größten Teil der werktätigen Bevölkerung Europas heutzutage kein utopischer Traum mehr, mit dessen Erfüllung sich Menschen befreien und politisieren ließen. Auch das Wandern als besondere Variante der Demonstration, wie etwa bei den Ostermärschen, erfreut sich nur noch sehr eingeschränkter Popula­rität. Von politischen Verbänden organisierte Reisen waren früher für viele Menschen die einzig mögliche Form des Tourismus. Dank Pauschalreisen, Billigfliegern und Ähnlichem ist das mittlerweile anders. Als linker Tourismus gilt heutzutage die ökologisch korrekte Individualreise, Zug statt Flug, vegane Pasta statt voller Piste. Auch das Angebot der Naturfreunde, die sich in den vergangenen 50 Jahren immer stärker vom reinen Tourismusverband zu ­einem Naturschutzverband entwickelt haben, geht immer mehr in diese Richtung.

Doch die »menschliche Begegnung nach ihrer Art« kann weiterhin das »Studium dicker Folianten« sinnvoll ergänzen. Die Lernforschung weiß mittlerweile, dass ein angeregtes Gespräch in Bewegung, an frischer Luft, vor schöner Landschaft, viel besser im Hirn hängenbleibt als alles, was man allein im stillen Kämmerlein liest. Die Verbindung von Erholung und Fortbildung ist ein sträflich vernachlässigtes Werkzeug der Linken. In allen Bundesländern außer Bayern und Sachsen gibt es sogar einen gesetzlichen Anspruch auf Bildungsurlaub. Dieser sieht eine bezahlte Freistellung von fünf Arbeitstagen pro Jahr zur politischen oder beruflichen Bildung vor – der perfekte Rahmen für einen Wanderurlaub. Allerdings nehmen gerade mal ein bis zwei Prozent der Arbeitnehmerschaft dieses Recht in Anspruch. Bei Arbeitgebern ist es extrem unpopulär und gerade in kleineren Betrieben oft nur schwer durchzusetzen.

Die Naturfreundejugend hat einen Reader darüber zusammengestellt, wie Seminare in Form von kleinen Wanderurlauben abgehalten werden können. Dabei nennen sie noch einen weiteren Vorteil: »Beim Wandern kann auch Schweigen zugelassen werden, so dass ruhige Momente der persönlichen Reflexion entstehen.«

Ob individuell oder in einer Gruppe: Die Möglichkeit, sich beim Urlaub fortzubilden, sollte nicht unterschätzt werden. Neben dem Aufsuchen von Denkmälern oder Stätten vergangener Kämpfe ist die Suche nach zeitgenössischen Kämpfen eine spannende Betätigung. Antifaschis­tische Dokumentationsprojekte wie »Allgäu rechtsaußen« zeigen, wie rechte Strukturen dort gedeihen, wo Städter nur zur Erholung vorbeikommen. Die regelmäßigen Ausflüge urbaner Antifagruppen nach Schnellroda oder Bornhagen sind Beispiele, wie man extremen Rechten das ruhige Hinterland streitig machen kann. Vereinzelte Aktivisten in ländlichen Gegenden freuen sich über solidarischen Besuch mit Kuchen. Nazis fühlen sich weniger sicher, wenn ihnen auch in der Provinz auf die Finger geschaut wird.

In Naturfreundehäusern kann man vor allem als Mitglied noch immer sehr günstig übernachten. In der Regel gibt es eine Küche, damit Reisende sich selbst versorgen können. Auch konservativere Verbände wie der Alpenverein oder das Deutsche Jugendherbergswerk stellen vergleichbare Unterkünfte. Weil er sehr günstig ist, ist der Wanderurlaub eine zugängliche Form der Freizeitgestaltung. Je länger und körperlich fordernder jedoch die Tour ausfällt, umso höher werden die Anforderungen an Fitness und generelle Bewegungsfähigkeit der Teilnehmenden. Das mag für viele Gruppen erst einmal kein Hindernis darstellen, sollte aber als Hürde für körperlich eingeschränkte Menschen berücksichtigt werden. Es gibt längst auch barrierefreie Naturfreundehäuser und auch kleine Strecken auf gut befestigten Wegen können Spaß machen.

Wandern ist nicht nur umweltfreundlich und pädagogisch wertvoll, es macht auch einfach Spaß. Es bietet Geselligkeit und Erholung und befördert den Austausch, nicht nur gegen die Vereinzelung als Wohlstandsproblem. Der Historiker Klaus-Dieter Groß beschreibt in seiner Geschichte des sozialen Wanderns, wie Naturfreundegruppen nach ihrem Verbot im Nationalsozialismus weiter als Freundeskreise wandern gingen und so Freiräume und Netzwerke auch unter der Diktatur erhalten blieben.

Also, raus aus WG und AZ, aus den Hörsälen und Demonstrationszügen und rein in die Natur: Freizeit und Fortschritt gehören zusammen. Der hedonistische Sozialismus muss ­erwandert werden.