Antifaschisten fordern, dass der 8. Mai in Deutschland ein Feiertag werden soll

Feiern und Fordern

Anders als in vielen Ländern Osteuropas ist der Tag der deutschen Kapitulation hierzulande kein Feiertag. Antifaschisten kämpfen seit Jahren darum, dies zu ändern.

Der 75. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus steht in vielen Ländern eher im Zeichen des neuartigen Coronavirus als dem des Sowjetsterns. Es sind schwierige Bedingungen, um den riesigen Kraftakt von Soldatinnen und Soldaten sowie Partisaninnen und Partisanen aus Russland, Kasachstan, Kirgisien, Georgien, der Ukraine und vielen weiteren ehemaligen Sowjetrepubliken sowie anderen Ländern angemessen zu würdigen. Unter immensen Verlusten erreichten sie schließlich das, was am 8. und 9. Mai gefeiert wird: die Befreiung vom NS-Regime. Während man in Moskau die Militärparade zum »Tag des Sieges« auf unbestimmte Zeit verschoben hat, findet eine solche unter dem Auto­kraten und Coronaleugner Alexander Lukaschenko in der belarussischen Hauptstadt Minsk statt. In der Ukraine ist man im Rahmen der »Europäisierung« des Gedenkens und der Politik der »Dekommunisierung« in den ­vergangenen Jahren bereits vom 9. Mai auf den 8. Mai ausgewichen. Die Machthaber der sogenannten Volksrepublik Donezk im von Separatisten kontrollierten Teil der Ostukraine haben hingegen beschlossen, die gleich­namige Hauptstadt an drei Feiertagen im Jahr wieder »Stalino« zu nennen, wie Donezk zwischen 1924 und 1961 hieß, und am 9. Mai eine Militärparade abzuhalten.

»Der 8. Mai muss ein Feiertag werden!« Esther Bejarano, Shoah-Überlebende

In der Bundesrepublik kann von einer weitreichenden Würdigung des Tags keine Rede sein – 35 Jahre nachdem der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker sich für die Deutung der militärischen Niederlage Deutschlands als Befreiung ausgesprochen und postuliert hatte, der 8. Mai sei ein »Tor in die Zukunft«. Von Symbolpolitik ab­gesehen, eignet sich der Jahrestag für eine Bestandsaufnahme bundesrepublikanischer »Aufarbeitung«, deren Erfolg der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn jüngst als »größte Lebenslüge der Bundesrepublik« bezeichnete.

Die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reichs hatte die Anti-Hitler-Koalition erstmalig im Januar 1943 auf der Konferenz von Casablanca als Kriegsziel festgelegt. Was darauf folgen sollte, haben die alliierten Staatsoberhäupter im Februar 1945 auf der Konferenz von Jalta sowie im Juli und August 1945 auf der Potsdamer Konferenz vereinbart: Gerichtsverfahren gegen Kriegsverbrecher und an nazistischen Gräueltaten Beteiligte durchzuführen, das deutsche Volk mit seiner Verantwortung für Verbrechen und Zerstörung zu konfrontieren sowie Deutschland zu Reparationsleistungen für die verursachten Verluste und Leiden zu verpflichten. In Potsdam wurde zudem festgehalten, dass alle nazistischen ­Gesetze abzuschaffen seien, »welche die Grundlagen für das Hitler-Regime geliefert haben oder eine Diskriminierung aufgrund der Rasse, Religion oder politischen Überzeugung errichteten«. Weiter hieß es: »Keine solche Diskriminierung, weder eine rechtliche noch administrative oder irgendeiner anderen Art, wird geduldet werden.«

Durch den einsetzenden Ost-West-Konflikt traten viele dieser Forderungen rasch in den Hintergrund und wurden in verschiedenen Gesellschaftssystemen auch verschieden verhandelt. Noch heute lassen sie sich mit den Ergebnissen der bundesrepublikanischen »Aufarbeitung der Vergangenheit« ab­gleichen. Einige späte Korrekturen des desaströsen Umgangs des Gros der deutschen Justiz mit nationalsozialistischen Tätern hat es in den vergangenen Jahren durchaus gegeben. Prozesse wie der derzeit gegen den ehemaligen Wachmann des Konzentrationslager Stutthof, Bruno D., vor dem Landgericht Hamburg geführte können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur die wenigsten in der Bundesrepublik lebenden Verantwortlichen je ein Strafverfahren, geschweige denn eine Strafe zu befürchten hatten. Vor kurzem wurde ein möglicherweise letztes Ermittlungsverfahren zum Massaker in Babyn Jar von der Staatsanwaltschaft Kassel aus Mangel an Beweisen ein­gestellt

Jede Bundesregierung konnte von sich behaupten, Reparationsansprüche größtenteils erfolgreich umgangen zu haben. Über deren angemessen Umfang zu sprechen, zöge Fall Fragen zur Wirtschaftsordnung ebenso wie Konsequenzen für Beziehungen auf politischer, monetärer und gesellschaftlicher Ebene nach sich. Die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter betrachtet man in Wirtschaft und ­Politik in der Regel als mit den Auszahlungen der auf internationalen Druck entstandenen Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« erledigt.

Seit 2014 streitet die Initiative »Ghetto-Renten Gerechtigkeit Jetzt!« für die sofortige Zahlung von Renten an alle verbliebenen Überlebenden der deutschen Vernichtungspolitik, deren ­Arbeitskraft in einem Ghetto während des Nationalsozialismus ausgebeutet wurde. Im Februar beschloss der Bundestag, die als »Asoziale« und »Berufsverbrecher« Verfolgten als Opfergruppe anzuerkennen und stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Zahlungen an die im Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung nicht bedachte Gruppe stehen weiterhin aus, beziehungsweise man hat sie sich durch zu langes Warten gespart.

Zahlreiche politische, künstlerische und publizistische Initiativen erinnern 75 Jahre nach der militärischen Niederlage des Deutschen Reiches an die Ereignisse und fordern eine Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen. Teils erfolgreich: Für 2020 hatten der Berliner Senat und die Landesregierung Brandenburgs beschlossen, den 8. Mai 2020 als gesetzlichen Gedenk- und Feiertag zu begehen und mit einem umfangreichen Kulturprogramm zu begleiten. Letzteres hat die Covid-19-Pandemie verhindert.

Seit dem 8. April ruft die 95jährige Shoah-Überlebende Esther Bejarano zusammen mit der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« (VVN-BdA) in einer Petition dazu auf, den 8. Mai in Deutschland zu einem gesetzlichen Feiertag zu machen. Bejarano wurde Anfang Mai 1945 von US-amerikanischen und sowjetischen Einheiten befreit. Sie hatte zuvor mit an­deren Gefangenen von einem Todesmarsch fliehen können, der vom Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz aus in Bewegung gesetzt worden war. In ihrem Aufruf fordert sie: »Der 8. Mai muss ein Feiertag werden!« Das sei seit sieben Jahrzehnten überfällig und werde vielleicht helfen, »endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes«. Die Lehren des 8. Mai zu befolgen, bedeute unter anderem, »AfD, NPD und ihre Verbündeten aufzuhalten, das Treiben ­gewalttätiger und mordender Neonazis zu unterbinden, ihre Netzwerke in ­Polizei, Bundeswehr aufzudecken und aufzulösen, einzugreifen, wenn Jüdinnen und Juden, Muslime, Roma und Sinti und andere, die nicht in das Weltbild von Nazis passen, beleidigt und angegriffen werden«. Die Petition haben mittlerweile mehr als 55 000 Menschen unterzeichnet.

Seit nunmehr zwölf Jahren veranstalten am 9. Mai in der Nähe des ­Sowjetischen Ehrenmals im Treptower Park in Berlin die VVN-BdA und andere antifaschistische Gruppen ein Fest ­unter dem Motto »Wer nicht feiert, hat verloren«. Das diesjährige wäre das dreizehnte gewesen und ist wegen der Einschränkungen aufgrund der Covid-19-Pandemie abgesagt worden. Dennoch will die VVN-BdA auch in diesem Jahr im Rahmen der Möglichkeiten gedenken und feiern. Es soll Broschüren, Plakate und eine Radiosendung geben. Sie ruft dazu auf, dezentral individuell zu ­gedenken und dies zu dokumentieren. Außerdem verschoben die Initiative »Ghetto-Renten Gerechtigkeit jetzt!« und die VVN-BdA aufgrund der Covid-19-Pandemie die Einweihung einer Gedenkplakette für die Kombattantinnen und Kombattanten der Ersten Polnischen Armee, die im Frühjahr 1945 gemeinsam mit der Roten Armee an der Befreiung Berlins beteiligt war, auf den 1. September – in der Hoffnung, dass dann Veteraninnen und Veteranen teilnehmen können.

Markus Tervooren, der Landesgeschäftsführer des Berliner Verbands der VVN-BdA, betont im Gespräch mit der Jungle World, dass der Tag wegen des derzeitigen Ausnahmezustands seine Wirkung nicht entfalten könnte. Vom Senat erwarte man daher zunächst, den Feiertag im nächsten Jahr nachzuholen. »Es wird eines der letzten Jahre sein, in denen Befreite noch die Möglichkeit haben werden, selbst an den Feiern teilzunehmen«, so Tervooren. Das eigentliche Ziel sei ohnehin ein bundesweiter gesetzlicher Feiertag, wie er in der Petition gefordert wird. Für eine solche Geste, dass man den 8. Mai als Tag der Befreiung vom National­sozialismus ansieht, könne sich auch der Berliner Senat stark machen.