Labour und der Brexit

Corbyn will es allen recht machen

Die Labour-Partei will neuerdings für den Verbleib Großbritanniens in der EU eintreten – solange sie in der Opposition ist.

Wer entscheidet darüber, ob und unter welchen Bedingungen das vereinigte Königreich die EU verlässt? In einem Referendum stimmte 2016 eine knappe Mehrheit der teilnehmenden Britinnen und Briten für den EU-Austritt. Obwohl das Ergebnis des konsultativen Referendums rechtlich nicht bindend ist, wird es vor allem von der Konservativen Partei, den Tories, als »Volkswille« interpretiert, dem die Regierung un­bedingt zu folgen habe. Dies sollte ­zunächst ohne eine Befragung des Parlaments geschehen, doch 2017 entschied der Oberste Gerichtshof, dass die Bedingungen des Ausstiegs vom Parlament verabschiedet werden müssen.

Wären die Oppositionsparteien im Unterhaus im März 2017 klar und geschlossen für einen Verbleib in der EU eingetreten, hätten sie den EU-Austritt vielleicht verhindern können. Stattdessen vermied es aber die Labour-Partei, sich gegen den EU-Austritt auszusprechen, während es der konser­vativen Regierung nicht gelang, für das von ihr ausgehandelte Abkommen mit der EU eine Mehrheit im Unterhaus zu finden. Das Ergebnis war ein politisches Chaos, Premierministerin Theresa May trat schließlich zurück, der Austritt wurde auf den 31. Oktober 2019 verschoben.

Auch dann dürfte keine der möglichen Lösungen (Zustimmung zu dem mit der EU ausgehandelten Abkommen, Austritt ohne Abkommen, Verbleib in der EU) eine Mehrheit finden. Ei­nige konservative Politiker schlugen daher vor, die Parlamentsarbeit für die entscheidende Periode zu unterbrechen. Beim proroguing, das auf Antrag des Premierministers von der Köni­gin verfügt werden müsste, würde die ­Sitzung des Parlaments vorzeitig beendet; Anträge, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht verabschiedet wurden, würden nicht weiter debattiert. Diese Entmachtung des Parlaments wäre juristisch fragwürdig und politisch waghalsig, auch Königin Elisabeth II. wäre wohl not amused, in ein solches Manöver hineingezogen zu werden. Doch das proroguing gehört für eine kurze Zeitspanne im Frühling jedes Jahr zum politischen Alltag in Großbritannien.

In der Führung der Labour-Partei geht man inzwischen wohl davon aus, dass die Tories eine demokratische Legitimation durch ein zweites Referendum oder Neuwahlen benötigen werden. In einer E-Mail an alle Parteimitglieder schrieb der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn, dass Labour sich verpflichte, als Oppositionspartei für den Verbleib in der EU einzutreten. Das bedeutet, dass Labour bei einem zweiten Referendum, in dem die von May ausgehandelte Vereinbarung, ein Austritt ohne Vertrag und ein Verbleib in der EU zur Wahl stünden, sich für Letzteres einsetzen würde.

Der Einfluss der Gewerkschaften

Gruppierungen innerhalb der Partei wie »Another Europe is Possible« und Momentum, die sich vorwiegend aus proeuropäischen, jungen Unterstützern Corbyns zusammensetzen, hatten in den vergangenen Jahren die Parteiführung immer wieder gedrängt, sich für den Verbleib in der EU auszusprechen. Corbyns scheinbare Kehrtwende sehen sie als Erfolg ihrer Bemühungen.

Wenn Labour ein zweites Referendum unterstütze, sei dies eine »schlechte Nachricht für die Demokratie«, könne zu einem »Wahldesaster« führen und mache zudem die Trennung der Partei von den »Traditionen der Arbeiterklasse irreversibel«, schreibt Peter Ramsay in der linksnationalistischen, der KP nahestehenden Tageszeitung Morning Star. Ein Teil der Wählerschaft betrachte die EU als Projekt einer »neoliberalen Elite«, die für die Probleme im Land verantwortlich sei, und empfindet die Ablehnung des EU-Austritts als Verrat. Diese Leute hatte Corbyn bislang nicht verprellen wollen.

Die Ablehnung der EU ist auch in den Gewerkschaften weit verbreitet. Sie sind wichtige Unterstützer der Parteiführung unter Corbyn und haben bisher dessen Position maßgeblich beeinflusst. Auch Corbyns E-Mail ist ein Resultat von Verhandlungen mit führenden Gewerkschaftern. Sie beschreibt auch ein zweites Szenario: Falls Labour regiert, soll es auf jeden Fall ein zweites Referendum geben. Ob die Partei sich dann gegen den EU-Ausstieg aussprechen würde, bleibt allerdings offen.

Corbyn will es allen Mitgliedern und Wählergruppen recht machen. Die Annäherung an eine »Remain«-Position soll proeuropäische Wählerinnen und Wähler zurückgewinnen, die bei den Europawahlen im Mai für die Liberaldemokraten oder die Grünen gestimmt hatten, die sich beide für den Verbleib in der EU aussprachen. Den EU-feindlichen Wählern und Wählerinnen suggeriert man hingegen, eine Labour-Regierung könne ein neues Aus­trittsabkommen aushandeln, das den Arbeitern zugute käme. Ob diese noch immer alles andere als eindeu­tige Haltung der Partei zum ­EU-Austritt nutzen wird, ist fraglich. Zudem muss sie sich infolge einer BBC-Reportage erneut öffentlich mit dem Antisemitismus in ihren Reihen auseinandersetzen.

Die Tories müssen zunächst das Ergebnis der Wahl des Vorsitzenden abwarten, das am 23. Juli verkündet werden soll. Ein Sieg Boris Johnsons gilt als sicher, als Premierminister hat er dann wohl nur die Wahl zwischen dem für die Tories riskanten Versuch, sich durch Neuwahlen oder ein zweites Referendum zu legitimieren, und der noch brisanteren Suspendierung des Parlaments – eine Möglichkeit, die Johnson sich explizit offen halten möchte. Er werde »nichts vom Tisch nehmen«, sagte er jüngst.