In der algerischen Armee gibt es nach einem großen Kokainfund Säuberungen

Der große Generalverdacht

Nach dem Fund von gut 700 Kilogramm Kokain im Hafen von Oran versetzt das algerische Verteidigungsministerium hochrangige Angehörige der Streitkräfte zwangsweise in den Ruhestand.

Einst bildete sie das Rückgrat der po­litischen Macht im Land, und noch ­immer hat sie großen Einfluss: Die algerische Armee spielte – und spielt zum Teil noch immer – eine wichtige Rolle in der Innenpolitik. Nun aber fallen ­einige Führungspersonen einer beispiellosen Säuberungswelle zum ­Opfer, auch wenn diese unblutig nur mit Zwangsversetzungen in den ­Ruhestand einhergeht. Der Auslöser war der Fund von 701 Kilogramm ­Kokain im Hafen von Oran im Mai.

Der Einfluss der Armee erstreckt sich nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Wirtschaft und hat seinen Ursprung im algerischen Unabhängigkeitskampf. Es war faktisch die Nationale Befreiungsarmee (ALN), die bei der Unabhängigkeit von der Kolonialmacht Frankreich im Jahr 1962 die Macht übernahm. Den zivilen Flügel der Nationalen Befreiungsfront (FLN), die ab 1954 gegen die französische Herrschaft kämpfte und die 1962 zur Staats- und im darauffolgenden Jahr zur Einheitspartei umgewandelt ­wurde, hatten sowohl die französische Repression als auch innere Säuberungen dezimiert. Einer der intelligentesten Köpfe des FLN in der Untergrundzeit war Abane Ramdane, der 1956 mit dem »Kongress der Soumam« – er fand klandestin im algerischen Berbergebiet statt – versuchte, die Bewegung einer zivilen Kontrolle zu unterstellen und ihr ein politisches Programm zu ver­leihen, zu dem der Laizismus gehörte. Doch Angehörige des militärischen Flügels der Befreiungsfront fürchteten um ihre Macht innerhalb der Bewegung. In den letzten Tagen des Jahres 1957 wurde Ramdane unter einem ­Vorwand nach Marokko eingeladen, dort in einen Hinterhalt gelockt und von Leuten aus den eigenen Reihen ermordet.

Im Hafen von Algier kennt der Volksmund den »Zuckergeneral« und den »Konservengeneral«, die ihre Hand schützend über den jeweiligen Sektor der informellen Wirtschaft halten.

Im Sommer 1962 übernahm die »Grenzarmee« der ALN die Macht, die bis dahin in den Nachbarländern ­Marokko und Tunesien bis zum Ende der Kampfhandlungen des Kolonialkriegs ausharrte und – im Unterschied zur städtischen Guerilla des FLN – nicht durch die Repression geschwächt worden war. Dies führte zu Kämpfen zwischen unterschiedlichen politischen Fraktionen in der Hauptstadt Algier, doch die Bevölkerung ging massenhaft auf die Straße, um ein schnelles Ende der Kampfhandlungen zu fordern, unter dem Kriegsmüdigkeit ausdrückenden Slogan: »Sieben Jahre sind genug!« De facto profitierte der Armeeapparat von der Situation nach dem inneren Waffenstillstand. Die ALN wurde zur Nationalen Volksarmee (ANP) und zur Stütze der Macht.
Die staatssozialistischen Versuche, eine eigenständige Ökonomie aufzubauen, wurden in den achtziger Jahren beendet zugunsten einer Exportökonomie für Erdöl und Erdgas, der Großteil der Güter für den täglichen Bedarf wurde importiert. Deshalb blühte eine Schattenwirtschaft auf. In dieser gewannen viele führende Militärangehörige faktische Monopolstellungen beim legalen oder illegalen Import von Gütern des Grundbedarfs. Im Hafen von Algier kennt der Volksmund den »Zuckergeneral«, den »Konserven­general« und ähnliche Figuren, die ihre Hand schützend über den jeweiligen lukrativen Sektor der informellen Wirtschaft halten.

Doch seit Ende Mai im Hafen von Oran in einem Container aus Brasilien, der vorgeblich Büchsenfleisch geladen hatte, gut 700 Kilogramm Kokain aufgefunden wurden, kamen einige dieser Bastionen ins Wanken. Eine Verhaftungswelle begann, die Teile des weitverzweigten Wirtschaftsimperiums um den Geschäftsmann, Fleischimporteur und Immobilienmakler Kamel Chikhi alias al-Bouchi zerlegte. Chikhi trug den – wohl etwas übertriebenen – Spitznamen »Pablo Escobar von Kouba«, nach einem Stadtteil von Algier. Seine Karriere ist bezeichnend dafür, wie seit den neunziger Jahren eine neue Bourgeoisie außerhalb der bis 1989 ­allein tonangebenden Bürokratie von Armee und FLN-Parteiapparat entstand und sich mit ihnen nunmehr einen Teil der Pfründe teilt.

Chikhi und seine Familie standen im Bürgerkrieg der Jahre 1992 bis 1999 nicht auf Seiten der Armee. Sie begannen damals ihren Aufstieg als Unternehmer und Kriegsgewinnler in der Stadt Lakhdaria südöstlich von Algier, einer Hochburg der 1992 verbotenen und danach im Untergrund kämpfenden Islamischen Heilsfront (FIS). Sie profitierten von der ungeregelten ­Privatisierung von Dienstleistungsunternehmen, die bis dahin in staatlicher Hand waren, jedoch der Staatsmacht jedenfalls in den Bürgerkriegszonen entglitten waren oder auch veräußert wurden, insbesondere wegen des 1994 beschlossenen drastischen Sparprogramms des Internationalen Währungsfonds (IWF) für Algerien. Kamel Chikhis Cousin Omar war eines der Gründungsmitglieder der jihadistisch-salafistischen Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA), die ab Mitte der neunziger Jahre eine mörderische Kampfführung betrieben, fiel jedoch 1999 unter das am Ende des Bürgerkriegs verabschiedete Amnestiegesetz. Der Geschäftsmann selbst finanzierte eifrig Moscheen und Koranschulen in der Region.

Der immer weitere Kreise ziehende Kokainskandal führt nun dazu, dass im algerischen Establishment die Pfründe neu verteilt werden. Störende Konkurrenten werden ausgeschaltet, auch in den Reihen der Armee. Eine Gruppe von Zivilisten um Said Bouteflika, den einflussreichen Bruder des schwerkranken Staatspräsidenten Abdelaziz Boute­flika, versucht, immer größere Teile des Geschäftslebens auch in der Schattenwirtschaft an sich zu ziehen. Zugleich gilt es, die Kandidatur des eigentlich längst amtsunfähigen Abdelaziz Bouteflika für die nächste Präsidentschaftswahl vorzubereiten, die voraussichtlich im April 2019 stattfinden wird.

Die Säuberung macht auch vor der Führung der Streitkräfte nicht halt. Ende August wurde Ahcène Tafer, der Oberkommandierende der Landstreitkräfte, zwangspensioniert. Am 18. September versetzte das Verteidigungs­ministerium auch den Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte, General­major Abdelkader Lounès, zwangsweise in den Ruhestand. Insgesamt wurden seit Juni und dem Ausbruch des Kokain­skandals bereits ein Dutzend hoher und höchster Militäroffiziere aus dem aktiven Dienst verdrängt, stets ohne Angabe von Gründen.

Hinter den Kulissen tobt ein Kampf zwischen Seilschaften, die auch unterschiedliche politische Ziele haben. Bleibt auch der Nachbar Marokko – gegen den Algerien die Befreiungsbewegung für die besetzte Westsahara, Polisario, seit Jahrzehnten unterstützt und auch auf eigenem Boden beherbergt – der offizielle Erzfeind, so stellt sich doch die Frage der Beziehungen zu anderen ­benachbarten Mächten. Seit Ausbruch des sogenannten arabischen Frühlings 2011 hatte die Regierung weitgehend das syrische Regime unterstützt und die Position vertreten, hinter den sich damals andeutenden Umwälzungen steckten Islamisten, die mit westlicher Unterstützung die Nationalstaaten ­unterminieren wollten. Doch in den vergangenen Wochen wurden die ­Beziehungen zur Türkei, zu Katar und zu islamistischen Fraktionen in Libyen aufgewärmt, da das Außenministe­rium das Land auf regionaler Ebene nicht isoliert sehen möchte.

Russland ist der Hauptlieferant Algeriens für Waffen und Rüstungsgüter, doch treten zu ihm immer mehr die USA in Konkurrenz. Teile des Establishments in Nordamerika begnügen sich nicht mehr mit ihrem traditionellen Bündnis mit Marokko und ein Ende September vorgestellter offizieller US-Bericht lobt ausdrücklich die Er­folge der algerischen Armee im Kampf gegen das Eindringen jihadistischer Kräfte in der südlich angrenzen Sahelzone.
All diese Auseinandersetzungen um die Ausrichtung der Politik Algeriens tragen dazu bei, die Fraktionskämpfe zu verschärfen.

Einigkeit im Etablishment des Landes stiftet hingegen die Feindschaft zu ­Marokko, wobei die Verflechtung beider Staaten mit Großmächten wie Frankreich und den USA dazu beiträgt, zu verhindern, dass deren Konkurrenz in einen offenen militärischen Konflikt wie 1963 umschlägt. In Frankreich etwa gibt es seit vorigem Jahr Doppelmitgliedschaften in den parlamentarischen Freundschaftsgesellschaften mit Marokko und Algerien, die dazu bei­tragen sollen, die trilateralen Beziehungen zu vertiefen.

Gleichwohl mangelt es nicht an Sticheleien von beiden Seiten. Im März etwa verkündete Algeriens Außenminister Abdelkader Messahel, die marokkanische Fluggesellschaft Royal Air Maroc (RAM) transportiere »nicht nur ­Passagiere« – eine durchsichtige Anspielung auf die ökonomische Bedeutung des Haschischhandels im Königreich. Als im April der Absturz eines algerischen Militärflugzeugs in Boufarik über 250 Menschenleben kostete, wies hingegen die marokkanische Seite triumphierend darauf hin, 26 Mitglieder der Polisario hätten sich in dem Flugzeug befunden. Am 4. und 5. Dezember sollen Marokko, Algerien und die ­Poli­sario am Sitz der UN in Genf miteinander verhandeln. Vermittler im Auftrag der UN soll Horst Köhler sein, der frühere deutsche Bundespräsident.