Die polnische Gedenkpolitik unter der nationalkonservativen Regierung der PiS

Gedenken im Umbruch

Vor 75 Jahren gelang mehreren Hundert Gefangenen des jüdischen Sonderkommandos im Vernichtungslager Treblinka die Flucht. Die Erinnerung daran verdeutlicht die Verwerfungen der heutigen Geschichtspolitik Polens. In Sobibór schreitet derweil die Umgestaltung der Gedenkstätte voran.

Es ist elf Uhr vormittags, die Sonne scheint am fast wolkenlosen Himmel. Der kleine Parkplatz, umgeben von Kiefernwäldern, füllt sich: zwei Busse, einige Kleinwagen, blankgeputzte Limousinen der staatlichen Vertreter. Ein Traktor zieht einen Anhänger voller Gedenkkränze hinter sich her, die meisten davon mit rot-weißen Bändern, aber auch blau-weiße und schwarz-rot-goldene sind dabei. Neben dem Parkplatz führt ein Weg in den Wald, der eine Engstelle aus zwei hohen Betonquadern passiert. Rechts der Öffnung zeigt eine in den Beton gravierte Schrift, wo man sich befindet: Obóz zagłady, Vernichtungslager.

Niemand verirrt sich zufällig hierher. Wie Au­schwitz ist Treblinka längst zum Symbol für die Shoah geworden, die Massenvernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden durch die deutschen Nationalsozialisten. Im ­Gegensatz zu Auschwitz gibt es hier in Treblinka keine sichtbaren Spuren, keine Krematorien, vor denen man Selfies machen könnte. Um die Gedenkstätte zu erreichen, muss man auf kleinen, schlecht beschilderten Straßen durch Felder, Dörfer und Wälder fahren. Manche ausländische Besucher finden ihr Ziel überhaupt nicht.

Diejenigen, die am 2. August dieses Jahres aus Bussen und Autos steigen, wissen, wohin sie gehen müssen. Die meisten von ihnen sind nicht zum ersten Mal hier. Sie lassen den dunkelgrün gestrichenen, an eine Bushaltestelle erinnernden Infokiosk, in dem zwei Frauen Bücher und Broschüren verkaufen, links liegen und folgen der Prozession durch eine Schneise im Wald. Symbolische Eisenbahnschwellen aus Beton weisen den Weg, auf dem früher die Gleise zur Rampe des Lagers führten. Zwischen 750 000 und einer Million Jüdinnen und Juden sowie Tausende Roma kamen zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 mit den Deportationszügen in Treblinka an, um dort von Deutschen und dem vor allem aus der Ukraine stammenden Wachpersonal ermordet zu werden. Ab 1943 wurden die Leichen der Ermordeten auf Rosten aus Eisenbahnschienen verbrannt, im Herbst jenes Jahres rissen die Deutschen das Lager schließlich ab und beseitigten alle Spuren. Einer der ukrainischen Wachmänner bezog anschließend mit seiner Familie einen auf dem Gelände errichteten Bauernhof, um die Landbevölkerung aus den umliegenden Dörfern fernzuhalten, die im sandigen ­Boden zwischen den Massengräbern nach Wertsachen suchte.

 

Auf dem größten Friedhof Polens

Ungefähr 100 Menschen versuchen, im Schatten eines Pavillons Platz zu finden. Neben Akademikern und Bildungsbürgern aus Warschau sind es vor allem ältere Menschen, Zeitzeugen und als Gerechte unter den Völkern Aus­gezeichnete, die hier Platz nehmen. Vor allem für sie stehen für den Notfall Rettungssanitäter mit Krankenwagen bereit. Die Redner nehmen neben dem zentralen Monument Aufstellung, etwa an der Stelle, an der sich das Gebäude mit den Gaskammern befand. Weithin sichtbar ragt der Turm aus dunklen Granitquadern in den blauen Himmel, er zeigt verzerrte Gesichter und segnende Hände. Das 1964 eingeweihte Monument mit der eingravierten Menora und den rundherum aufgestellten Granitfelsen benennt für seine Entstehungszeit ungewöhnlich konkret, wer hier die Opfer waren. An den meisten Orten, an denen die Deutschen zwischen 1939 und 1945 massenhaft Juden ermordeten, war im sozialistischen Osteuropa nur von »Opfern der Faschisten« beziehungsweise der Hitlerowcy (Hitleristen) die Rede. Die Opfer wurden fast immer als polnische oder sowjetische Staatsbürger bezeichnet.

Geschichtspolitik spielt vor allem dort eine große Rolle, wo homogene Gemeinschaften statt offener Gesellschaften propagiert werden. In Polen, das mehr als jedes andere Land vom deutschen Vernichtungskrieg sowie vom russischen und sowjetischen Imperialismus betroffen war, wird diese Aufgabe heute besonders vom Instytut Pamięci Narodowej (Institut des Nationalen Gedenkens, IPN) wahrgenommen. Internationale Kontroversen löste das sogenannte Holocaust-Gesetz aus, die Novelle des Gesetzes über das Institut des Nationalen Gedenkens Anfang dieses Jahres, wonach die Formulierung »polnische Todeslager« oder die Verantwortlichmachung des polnischen Staates oder der polnischen Nation für die NS-Verbrechen mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden sollte. Mit der israelischen Regierung, die als scharfe Kritikerin des Gesetzes auftrat, einigte sich die nationalkonservative Regierung Polens im Juli auf eine Kompromisslösung, die nur noch Geldstrafen vorsieht.

Auch Mateusz Szpytma, der stellvertretende Direktor des IPN, nimmt Anfang August an der Gedenkveranstaltung teil und betont, dass der Name Polens jahrhundertelang »als Asyl für die Verfolgten gerühmt« worden sei. Applaus bekommt er keinen, genauso wenig wie ein Vertreter des polnischen Präsidenten Andrzej Duda und ein Vertreter des Kulturministeriums.

Als Anna Azari spricht, die israelische Botschafterin in Polen, reagiert das Publikum hingegen zustimmend. Azari fordert, »aus der Vergangenheit zu lernen, eine Zukunft ohne Hass zu errichten«. Auch als der stellvertretende Bürgermeister von Warschau, Włodzimierz Paszyński, die polnische Bildungsministerin für ihr »echtes oder gespieltes Unwissen« über die von Polen in Jedwabne 1941 und Kielce 1946 begangenen Pogrome scharf angreift, erntet er Zustimmung.

Dass Polens nationalkonservative Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) die Geschichts- und Erinnerungspolitik zu einem ihrer zentralen Aufgabenfelder gemacht hat, schlägt den Regierungsvertretern bei der Gedenkveranstaltung in Treblinka deutlich entgegen und zeigt, wie gespalten die polnische Gesellschaft nach wie vor ist. Auch die Benennung der Ermordeten zeigt deutliche Unterschiede: Für Duda und die Regierungsvertreter ist Treblinka »der größte Friedhof polnischer Staatsbürger«, Paszyński spricht in Anbetracht der etwa 300 000 hier ermordeten Warschauer Juden vom »größten Friedhof Warschaus«; Jolanta Hercog, die stellvertretende Direktorin des Instituts für Jüdische Geschichte in Warschau, bezeichnet den Ort dagegen als das »größte Grab polnischer Juden«. Nur beim Superlativ herrscht hier Einigkeit.


Kein Geld aus Deutschland

Lange Zeit waren Gedenkveranstaltungen in Treblinka von Zeitzeugen wie Samuel Willenberg geprägt, der 2016 mit 93 Jahren in Israel starb. Dass es überhaupt Juden gab, die über das Vernichtungslager berichten konnten, geht auf den Aufstand im August 1943 zurück, an den heute erinnert wird. Am 2. August 1943 gelang mehreren Hundert Gefangenen des sogenannten jüdischen Sonderkommandos die Flucht aus dem Lager; einige Dutzend von ­ihnen überlebten das Kriegsende. Die den jüdischen Sonderkommandos zu­geteilten Gefangenen wurden in den Vernichtungslagern dazu gezwungen, die Ermordungen vorzubereiten und die Leichen zu beseitigen.

Willenberg, der 1950 nach Israel auswanderte, sprach in der Gedenkstätte regelmäßig über seine Zeit im Vernichtungslager und setzte sich im Alter als bildender Künstler, Bildhauer und Autor vor allem mit der Shoah ausein­ander. Sein Tod 2016 markierte einen Wendepunkt in der Gedenkarbeit in Treblinka. Bei der Gedenkveranstaltung fordert seine aus Israel angereiste Witwe Ada, die die Shoah dank gefälschter Papiere überlebte, ein neues Gebäude, »in dem man unter guten Bedingungen sprechen kann«. Ein neues Museum und Begegnungszentrum sei der letzte Wunsch ihres Mannes gewesen und dieses Anliegen sei mit seinem Tod auf sie übergangen. Außer dem »guten Willen der polnischen Regierung« brauche es dafür vor allem eines: Geld.
Die Gedenkstätte Treblinka spiegelt immer noch weitgehend das Gedenken der Volksrepublik Polen wider. Die

Ausstellung des 2006 eingeweihten Mu­seums folgt keiner klaren Konzeption, es fehlen viele Hintergrundinformati­onen und es mangelt an fremdsprachigen Angeboten. Einer der Hauptgründe für den schlechten Zustand des Museums ist der permanente Geldmangel. Bis Mai dieses Jahres war das Museum in Treblinka dem Regionalmuseum in Siedlce, der nächsten Kreisstadt, angegliedert. Anders als bei staatlichen Gedenkstätten wie Auschwitz oder Majdanek kam hier das Geld aus dem knappen Haushalt des Landkreises.

Erst seit Ende Mai ist Treblinka als staatliches Museum direkt der Woiwodschaft Masowien unterstellt. Wie andere Gedenkstätten wurde auch diese im Zuge der Diskussion über das Holocaust-Gesetz umbenannt. Vor allem konservative Politiker beklagten ein schwindendes Wissen über die Urheberschaft der Konzentrations- und Vernichtungslager. Die Gedenkstätte in Treblinka, die auch das Gelände des ehemaligen Arbeitslagers Treblinka 1 umfasst, wird nun offiziell unter dem Namen »Museum Treblinka: Deutsches national­sozialistisches Vernichtungs- und Arbeitslager (1941–1944)« geführt.

Die organisatorischen Veränderungen allein dürften nicht ausreichen. Andere Gedenkstätten wie beispielsweise die in Bełżec verdanken ihre Neugestaltung nicht zuletzt amerikanisch-jüdischer Unterstützung. Der Direktor des Museums in Treblinka, Edward Kopówka, macht sehr deutlich, wen er hier in der Pflicht sieht: »Das Museum in Treblinka hat von der BRD noch nicht einen Euro erhalten.« Geld aus Deutschland habe es für die Gedenkstätte nur ein einziges Mal gegeben, als die evangelische Kirche Bielefeld 1 000 Euro an Spendengeldern gesammelt hatte – eine wichtige Geste, aber für die Gedenkstätte nicht mehr als ein »Spargroschen«.

Ungewiss ist daher auch, was mit den bereits fertigen Plänen für ein neues Dokumentations- und Begegnungszentrum in Treblinka passiert. Willenbergs Tochter Orit Willenberg-Giladi, die auch die Pläne für das Gebäude der ­israelischen Botschaft in Berlin entworfen hatte, wurde zur Gedenkveranstaltung vor fünf Jahren in Treblinka feierlich als Architektin beauftragt. Kopówka betont, dass es sich bei ihrer Arbeit nur um einen Entwurf handle. Für ihn als Leiter des Museums stünden derzeit die organisatorische Umstrukturierung sowie die Erweiterung des Erinnerungsorts Treblinka um die ehemalige Bahnstation des Ortes im Mittelpunkt, an der viele Deportationszüge warten mussten, bevor sie ins Vernichtungslager fuhren. Ein übergeordnetes Konzept für die Gedenkstätten an den Orten der »Aktion Reinhardt«, wie der Deckname für die massenhafte Ermordung aller Jüdinnen und Juden im sogenannten Generalgouvernement lautete, kommt für Kopówka nicht in Frage. Zwar arbeite man besonders in Recherchefragen zusammen, aber die Orte hätten alle ihre »eigene Geschichte und individuelle Erforderlichkeiten«. Es könne keine vereinheitlichte Ausstellung in Treblinka, Bełżec und Sobibór geben, so Kopówka.


Neugestaltung in Sobibór


Die Gedenkstätte in Sobibór ist schon einen Schritt weiter und folgt mit ihrer umfassenden Neugestaltung deutlich dem Beispiel Bełżec. Wie dort standen bei der Ausschreibung, die unmittelbar nach der Angliederung der Gedenkstätte an das staatliche Museum in Majdanek 2012 erfolgte, der Schutz der Massengräber, ein zeitgemäßes Gedenken und eine Verbindung von Gedenk- und Informationsort im Vordergrund. Bis 1993 war hier noch von durch die »Hitleristen« ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen die Rede; auf dem ehemaligen Lagergelände befand sich seit den siebziger Jahren eine Kindertagesstätte. 1993 wurde das Kita-Gebäude dann als Museumsgebäude in die Gedenkstätte eingegliedert. Ansonsten teilte das Gelände in Sobibór lange Zeit das Schicksal der anderen Tötungsorte der »Aktion Reinhardt«, es war weitgehend vergessen. Die Massengräber blieben ungeschützt und an einigen Stellen kamen Knochen zum Vorschein.

Seit 2017 ist das Gelände für Besucher komplett gesperrt. Ein Wachschutz sorgt dafür, dass niemand den weiträumig abgesperrten Bereich betritt. Sind die oftmals weitgereisten Besucher zu hartnäckig, erzählt ihnen ein Wachmann manchmal etwas von Minenfeldern im Wald. Das Museum wurde bereits 2012 durch eine Freiluftausstellung ersetzt und das Gebäude abgerissen, seitdem arbeitet das Personal in blauen Containern.

In jahrelangen archäolo­gischen Untersuchungen unter der Leitung von Wojciech Mazurek, zuletzt auf eigene Faust, wurden nicht nur die Massengräber lokalisiert, sondern 2014 sogar die Fundamente des Gaskammergebäudes entdeckt. Diese werden in der neuen Gedenkstätte, deren Entwürfe immer wieder den neuen Untersuchungsergebnissen angepasst wurden, ihren Platz finden, ebenso Elemente aus den sechziger Jahren.

Der Bereich der Massengräber ist bereits geschützt und von einer Schicht weißer Kiesel bedeckt. Die dortigen Arbeiten fanden – wie auch in Bełżec – unter ständiger Aufsicht orthodoxer Rabbiner statt. Wenn die Bauarbeiten abgeschlossen sein werden, wird nur eine kleine Lücke in der Mauer den Blick auf die Gräber freigeben. Die 1965 dort aufgestellte Skulptur einer Mutter mit Kind, die derzeit von Absperrband umgeben neben den Bürocontainern steht, soll in Zukunft hinter dem geplanten Museum am früheren Ort der Entkleidungs­baracken ihren Platz finden.
Die Ausmaße der neuen Gedenkstätte sind an die des Lagers angelehnt. Über 25 Hektar gehören zum Gelände. In Entfernung zu größeren Städten und nahe der ukrainischen und weißrussischen Grenze plant man hier in größeren Dimensionen, wie auch der Parkplatz im Entwurf zeigt. »Die Besucherzahlen wuchsen kontinuierlich. Im Jahr 2016 waren es bereits über 30 000«, berichtet Tomasz Oleksy-Zborowski, der Leiter der Gedenkstätte.

Anders als beispielsweise in Auschwitz kamen bisher über 90 Prozent der Besucher in Sobibór aus Polen. Viele davon waren ­Gäste eines wenige Kilometer entfernten Ferienparks. Oleksy-Zborowski geht davon aus, dass mit der Umgestaltung und Neuorganisation der Gedenkstätte auch mehr Besuchergruppen aus dem Ausland nach Sobibór kommen werden.

Die ganze Region soll touristisch aufgewertet werden. »Bis vor einigen Jahren war der Kreis Włodawa die ärmste Region der Europäischen Union«, so Oleksy-Zborowski. Mittlerweile werden in der nahen Kleinstadt auch mit EU-Unterstützung die Synagogen saniert und Włodawa wirbt in Erinnerung an die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg mit dem Slogan »Stadt der drei Kulturen«.

In Sobibór sind in erster Linie Polen, Israel, die Slowakei und die Niederlande an der Neugestaltung der Gedenk­stätte beteiligt. Nach sechs Jahren polnischer Anfragen und vergeblicher ­Debatten im Bundestag hat die Bundes­regierung immerhin 900 000 Euro für die neue Ausstellung des Museums zugesagt. Noch 2013 hatte Cornelia Pieper (FDP) als Staatsministerin im Auswärtigen Amt das mangelnde Engagement Deutschlands damit begründet, dass in Sobibór angeblich keine deutschen Juden ermordet worden seien. Anders als Auschwitz mit seinem internationalen Symbolcharakter spielten die Orte des Massenmords der »­Aktion Reinhardt« für den deutschen Staat bisher keine große Rolle. Der Wandel der Gedenkstätten an diesen Orten könnte sie stärker in den inter­nationalen Fokus rücken – und vielleicht auch die Debatten über die deutsche Verantwortung wieder anregen.