China erprobt ein »Sozialkreditsystem« zur Kontrolle gesellschaftlich erwünschten Verhaltens

Der kommunistische Musterbürger

China erprobt derzeit ein »Sozialkreditsystem«, mit dem erwünschtes Verhalten belohnt und unerwünschtes Verhalten sanktioniert werden soll. In zwei Jahren soll die Schufa für alle Lebensbereiche in der Volksrepublik landesweit Realität sein.

Wie muss man sich das »Sozialkreditsystem« vorstellen? Vielleicht so: In dem Moment, als der chinesische Volkskongress die Beschränkung der Amtszeit des Präsidenten Xi Jinping aufgehoben und ihn damit de facto zum mächtigsten Politiker Chinas seit Mao Zedong gemacht hat, vibriert das Smartphone in Xis Anzugstasche. Der Grund sind jedoch keine Glückwunsch­nachrichten bei WeChat, dem in China am meisten genutzten Kurznachrichtendienst, oder dergleichen, sondern es ist die App des »Sozialkreditpunktesystems«, das China derzeit einzuführen versucht. Die Aussicht auf lebenslange Präsidentschaft steigert Xi Jinpings Punktewert sicher erheblich.

Was wie ein schlechter Abklatsch der dystopischen Netflixserie »Black ­Mirror« klingt, bei der in einer Folge Menschen sich permanent via App ­bewerten und anhand der daraus resultierenden sozialen Hierarchie verhalten – geheuchelte Freundschaft für die, die mehr Punkte haben, um aufzusteigen, Abkehr von denen mit weniger Punkten, um nicht mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden –, wird in Teilen der Volksrepublik China bereits erprobt.

Die Pläne der chinesischen Regierung, die Bevölkerung zu einem vorgeschriebenen sozialen Verhalten zu zwingen, reichen Jahre zurück. Bereits im Frühjahr 2015 war das Vorhaben angekündigt worden. Bis 2020 soll das Sozial­kreditsystem für alle rund 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner der Volksrepublik gelten. Sie müssen sich dann mit der Sozialausweisnummer im System registrieren. In mehr als 30 Regionen des Landes wird das System bereits getestet, dort sind Sanktion und Belohnung über das Kreditsystem bereits Alltag der Menschen.
Konkret sieht dies so aus: Jeder Bürger, jede Bürgerin startet mit 1 000 Punkten auf dem persönlichen Konto. Dann beginnt die umfassende Bewertung des Lebens.

Das System vergibt Pluspunkte für vorbildliches soziales Verhalten: Nachhilfe, Pflege von Alten, »freiwilliges« Pflanzen von Bäumen der Umwelt zuliebe: das Punktekonto geht nach oben. Wer falsch parkt, ohne Fahrschein unterwegs ist, seine Großeltern nicht regelmäßig im Heim besucht oder »allein in einer zu großen Wohnung« lebt, wird mit Minuspunkten bestraft. Der Punktewert soll den gesamten Menschen ­abbilden.

Nutzer mit mindestens 1 300 Punkten erhalten die höchste Bewertung AAA, wer hingegen unter einen Wert von 600 fällt, landet in der schlechtesten Kate­gorie D – wie bei einer Rating-Agentur. Über eine App kann man sich ständig über den eigenen Punktestand und die Entwicklung informieren.

 

Der Zugang zum Wohnungsmarkt, zur Gesundheitsversorgung oder auch zu Jobs soll über Einstufungen ermöglicht oder eben verhindert werden.

 

Diese umfassende Beurteilung der Bürgerinnen und Bürger soll dadurch gelingen, dass aus allen möglichen ­gesellschaftlichen Bereichen Daten über das individuelle Verhalten gesammelt, zusammengeführt und in einem einheitlichen Score gebündelt werden. Dabei kommen so unterschiedliche Bereiche wie das Verhalten im Straßenverkehr, Gesundheitsdaten, Bewertungen von Lehrerinnen und Lehrern sowie Vorgesetzten im Betrieb, aber auch Konflikte mit Vermietern und Aktivitäten im Internet und Konsumgewohnheiten zusammen. All diese Bereiche werden bewertet, gewichtet und im System zusammengeführt – mit konkreten Auswirkungen auf den persönlichen Score. Die Idee ist, eine allumfassende Grundlage zur Bewertung jeder einzelnen Person zu bekommen. Der Score ergibt ein Gesamtbild des Werts der Person.

Dieser Wert der Person wäre allein schon eine fragwürdige Quantifizierung des Selbst, doch die Pläne gehen weit darüber hinaus. Der Wert ist nämlich kein Selbstzweck, sondern entscheidend für die Zuteilung gesellschaftlicher Ressourcen. Der Zugang zum Wohnungsmarkt, zur Gesundheitsversorgung oder auch zu Jobs soll über die detaillierten Einstufungen ermöglicht oder eben verhindert werden. Die jeweils zuständigen Behörden sollen Zugang zum Punktewert der Bürgerinnen und Bürger erhalten und sich so ein Bild von der betreffenden Person machen können. Unternehmen haben einen Überblick über Geschäftspartner oder potentielle neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter; der Gesundheitsbereich versucht Kosten zu sparen, denn nur noch aktive und gesunde Bürgerinnen und Bürger sollen (bevorzugt) versorgt werden. Auch Dating-Apps sollen mit dem Kreditsystem gekoppelt werden. Welche Person aus der AAA-­Kategorie will schon eine D-Person daten? Das System dringt in alle gesellschaftlichen Bereiche vor. Ein hohes Rating kann sich bei der Vergabe von Studienplätzen an die Kinder oder in einer besseren Krankenversicherung positiv auswirken. Wer in der Kategorie D steckt, muss sogar befürchten, den Job zu verlieren.

 

 

 

Das Sozialkreditsystem soll neben den sozialen Normen auch die Kreditwürdigkeit der Personen beurteilen. Hierfür arbeitet die chinesische Führung mit dem weltgrößten E-Commerce-Händler Alibaba, dem chinesischen Amazon, zusammen. China bekommt dadurch Zugriff auf die Daten der weltweit rund 500 Millionen Kunden. Noch ist unklar, wie diese unglaubliche Menge von Daten genau erfasst und wie die einzelnen Handlungen der Personen überprüft werden sollen. Völlig unklar ist auch, wie der Datenschutz gewährleistet werden soll, wie anfällig das System für Korruption ist oder wie das System die jeweiligen Daten überhaupt gewichtet und der Algorithmus zu seinen Ergebnissen kommt.

Deutlich wird der enge Zusammenhang des chinesischen Systems mit der ­Digitalisierung und Big Data. Der Rohstoff dieser Entwicklungen sind die zahllosen Informationen, die Bürgerinnen und Bürger online teilen und die dann verwertet werden. Während in der westlichen Welt die Nutzer die Informationen zumeist frei­willig teilen und damit Profit für privatwirtschaftliche Firmen ermöglichen, werden in China die Menschen immer mehr zur Preisgabe von Informationen gezwungen, um die Kontrollmöglichkeiten von Staat und Partei zu erhöhen. In diesem Zusammenhang ist auch die Ankündigung der Nationalbank Chinas zu verstehen, eine eigene Kryptowährung einzuführen. Diese soll an den Score gekoppelt sein, und die staatliche Kontrolle noch erweitern.

Sowohl in Europa als auch in China ist dies jedoch weit mehr als ein rein technologischer Prozess. Der Herausgeber der FAZ, Jürgen Kaube, sprach in diesem Zusammenhang einmal vom »Rausch der Zahlen«. Gemeint ist damit der Glaube, dass alles, auch menschliche Beziehungen, bewertet und quantifiziert werden kann. Das gesamte ­gesellschaftliche Sein soll über einen Score quantifiziert werden. Diese daten- und indikatorenbasierte Form der gesellschaftlichen Bewertung und Kontrolle fußt jedoch auf einer zutiefst moralisierenden Grundlage.

Die chinesische Regierung versucht damit, die Aufrichtigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu belohnen beziehungsweise ihre Unehrlichkeit zu ­bestrafen und sanktionieren. Ziel ist die Herstellung gesellschaftlichen ­Vertrauens, einer »Mentalität der Ehrlichkeit«. Dieses Vertrauen gründet jedoch auf Mitteln der totalen sozialen Kontrolle, gesteuert von der einen relevanten Instanz in der Volksrepublik: der Kommunistischen Partei beziehungsweise der Regierung. Es ist anzunehmen, dass das Sozialkreditsystem auch Folgen haben wird für die politische Meinungsäußerung und die Freiheit der Medien. Wer über soziale Netzwerke Missstände in der Volksrepublik anklagt oder sich gegen die Partei stellt, wird mit Punktabzug und wohl auch mit Schlimmeren rechnen müssen.

Zwei der rund 3 000 Delegierten des Volkskongresses haben gegen Xi Yingping gestimmt. Noch hat in diesem Moment bei ihnen nicht das Smartphone vibriert, weil ihr persönlicher Score weit nach unten gegangen ist. Dass so etwas aber bald Realität werden könnte, ist das Erschreckende am gesellschaftlichen Kreditsystem in China.