China erprobt ein »Sozialkreditsystem« zur Kontrolle gesellschaftlich erwünschten Verhaltens

Der kommunistische Musterbürger

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Das Sozialkreditsystem soll neben den sozialen Normen auch die Kreditwürdigkeit der Personen beurteilen. Hierfür arbeitet die chinesische Führung mit dem weltgrößten E-Commerce-Händler Alibaba, dem chinesischen Amazon, zusammen. China bekommt dadurch Zugriff auf die Daten der weltweit rund 500 Millionen Kunden. Noch ist unklar, wie diese unglaubliche Menge von Daten genau erfasst und wie die einzelnen Handlungen der Personen überprüft werden sollen. Völlig unklar ist auch, wie der Datenschutz gewährleistet werden soll, wie anfällig das System für Korruption ist oder wie das System die jeweiligen Daten überhaupt gewichtet und der Algorithmus zu seinen Ergebnissen kommt.

Deutlich wird der enge Zusammenhang des chinesischen Systems mit der ­Digitalisierung und Big Data. Der Rohstoff dieser Entwicklungen sind die zahllosen Informationen, die Bürgerinnen und Bürger online teilen und die dann verwertet werden. Während in der westlichen Welt die Nutzer die Informationen zumeist frei­willig teilen und damit Profit für privatwirtschaftliche Firmen ermöglichen, werden in China die Menschen immer mehr zur Preisgabe von Informationen gezwungen, um die Kontrollmöglichkeiten von Staat und Partei zu erhöhen. In diesem Zusammenhang ist auch die Ankündigung der Nationalbank Chinas zu verstehen, eine eigene Kryptowährung einzuführen. Diese soll an den Score gekoppelt sein, und die staatliche Kontrolle noch erweitern.

Sowohl in Europa als auch in China ist dies jedoch weit mehr als ein rein technologischer Prozess. Der Herausgeber der FAZ, Jürgen Kaube, sprach in diesem Zusammenhang einmal vom »Rausch der Zahlen«. Gemeint ist damit der Glaube, dass alles, auch menschliche Beziehungen, bewertet und quantifiziert werden kann. Das gesamte ­gesellschaftliche Sein soll über einen Score quantifiziert werden. Diese daten- und indikatorenbasierte Form der gesellschaftlichen Bewertung und Kontrolle fußt jedoch auf einer zutiefst moralisierenden Grundlage.

Die chinesische Regierung versucht damit, die Aufrichtigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu belohnen beziehungsweise ihre Unehrlichkeit zu ­bestrafen und sanktionieren. Ziel ist die Herstellung gesellschaftlichen ­Vertrauens, einer »Mentalität der Ehrlichkeit«. Dieses Vertrauen gründet jedoch auf Mitteln der totalen sozialen Kontrolle, gesteuert von der einen relevanten Instanz in der Volksrepublik: der Kommunistischen Partei beziehungsweise der Regierung. Es ist anzunehmen, dass das Sozialkreditsystem auch Folgen haben wird für die politische Meinungsäußerung und die Freiheit der Medien. Wer über soziale Netzwerke Missstände in der Volksrepublik anklagt oder sich gegen die Partei stellt, wird mit Punktabzug und wohl auch mit Schlimmeren rechnen müssen.

Zwei der rund 3 000 Delegierten des Volkskongresses haben gegen Xi Yingping gestimmt. Noch hat in diesem Moment bei ihnen nicht das Smartphone vibriert, weil ihr persönlicher Score weit nach unten gegangen ist. Dass so etwas aber bald Realität werden könnte, ist das Erschreckende am gesellschaftlichen Kreditsystem in China.