Die albanischen Gewerkschaften interessieren sich nicht für Arbeiter

Vorwärts und vergessen

Albanische Gewerkschaften sind bedeutungslos, wenn es um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen geht. Doch kleine Initiativen unterstützen lokale Kämpfe.

Das gute an Albanien, findet der Ministerpräsident und Vorsitzende der Sozialistischen Partei Albaniens, Edi Rama, sei, dass es dort keine Gewerkschaften gebe. Im italienischen Fernsehen prahlte er mit diesem besonderen Anreiz für Geschäftsleute. In Albanien herrschten ideale Bedingungen für Investoren.

Rama schaffte konsequenterweise Ende August das Arbeitsministerium ab. Stattdessen gibt es in seinem neuen Kabinett ein »Ministerium für Unternehmertum«. Die Aufgaben dieses Ministeriums kennt niemand so genau. Besonders gewerkschaftsfreundlich dürfte es nicht sein, fürchten Linke und Linksliberale in Tirana. Die Schaffung des ungewöhnlichen Ministeriums provozierte so manchen sarkastischen Witz.

Auch im sozialen Zentrum der Gruppe Organizata Politike (OP) amüsiert man sich über die Aufstellung des neuen Kabinetts. Dass es zur Hälfte mit Frauen besetzt sei, könne nicht über die fehlende Sozialpolitik der Regierung hinwegtäuschen. Die Abschaffung des Arbeitsministeriums sei dagegen nur konsequent, finden Bora Meme, Anita Lushi und Krist Cunga. Die drei sind Mitglieder der OP und unterstützen Arbeitskämpfe in ganz Albanien. »Wir unterstützen die Leute, wenn sie streiken oder protestieren, und versuchen, sie auch juristisch zu beraten oder über ihre Rechte als Arbeiter zu informieren«, sagt Meme.

Trotz der schwachen Gewerkschaften gibt es hin und wieder Proteste und Arbeitskämpfe.

Die Situation der lohnarbeitenden Bevölkerung in Albanien hat sich in den vergangenen Jahren kaum verbessert. Die Arbeitsmarktreform der sozialistischen Regierung aus dem Jahr 2013 garantiert zwar Arbeitsschutz, Kündigungsschutz und geregelte Arbeitszeiten, die Realität sieht jedoch anders aus. Lushi ist Studentin und hat wie fast alle ihrer Kommilitonen einen Nebenjob. Im vergangenen Jahr arbeitete sie in einem Callcenter in Tirana. »Ich habe einen Monat lang jeden Tag zehn Stunden dort gearbeitet. An sieben Tagen der Woche, ohne auch nur einen Tag frei zu haben.« Ganz legal ist das freilich nicht.

In ihrem Vertrag mit dem Callcenter fand Lushi jedoch einen Zusatz, der sie verpflichtete, sich nach Bedarf einsetzen zu lassen. Überstunden würden in den Folgemonaten kompensiert. »Niemand traut sich, dagegen zu protestieren. Die Angst vor Kündigungen ist viel zu groß«, sagt Lushi. Das albanische Arbeitsgesetz sieht eine Höchstarbeitszeit von 172 Stunden pro Monat vor. Doch auch wenn Lushi in einem Monat etwa 280 Stunden gearbeitet hat, sehen die albanischen Gewerkschaften darin kein Problem. Schließlich handelt es sich um freiwillig geleistete Arbeit, die vertraglich vereinbart ist.

Für die vielen Angestellten der Callcenter in Tirana oder Durrës interessieren sich die großen Gewerkschaften ohnehin wenig. Sie sind vor allem im öffentlichen Sektor vertreten. Die zwei großen gewerkschaftlichen Dachverbände teilen sich die Arbeiterschaft fast gänzlich auf. Die aus den kommunistischen Staatsgewerkschaften hervorgegangene Konföderation der Gewerkschaften Albaniens (KSSh) steht politisch der Sozialistischen Partei nahe. Die ursprünglich als politische Opposition zum kommunistischen Regime entstandene Konföderation der unabhängigen Gewerkschaften Albaniens (BSPSh) tendiert politisch zur Demokratischen Partei. Diese beiden großen Dachverbände repräsentieren ungefähr 90 Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder in Albanien, etwa 200 000 Menschen.

Die meisten davon arbeiten im öffentlichen Sektor und in den früher staatlichen, mittlerweile privatisierten Unternehmen. 80 Prozent der Mitglieder im BSPSh sind im öffentlichen Sektor beschäftigt, nur 20 Prozent im privaten Sektor. Die Zahl der Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor nimmt jedoch in Albanien stetig ab. Zugleich wächst die Zahl der neu gegründeten, weitgehend gewerkschaftsfreien Betriebe im privaten Sektor.

»Die albanischen Gewerkschaften betreiben die gleiche Klientelpolitik wie die hiesigen Parteien. Die Funktionäre sind korrupt und auf ihren Vorteil bedacht. Um die Rechte der Arbeiter und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen geht es ihnen nicht,« sagt Meme.

Trotz der schwachen Gewerkschaften gibt es hin und wieder Proteste und Arbeitskämpfe und bescheidene Versuche, sich zu organisieren. Vor einigen Monaten wehrten sich Angestellte eines Callcenters in Tirana erfolgreich gegen Überstunden und Bonuskürzungen. Zwei Wochen nach ihrem Protest wurden die vermeintlichen Rädelsführer fristlos entlassen. Im vergangenen Jahr protestierten in Tirana Erdölarbeiter aus dem südalbanischen Ballsh, weil sie zehn Monaten lang keine Gehälter bekommen hatten. »Am Ende der Proteste einigten sich die Arbeiter mit den Betreibern der Raffinerie auf die Zahlung des letzten Monatsgehalts. Im Gegenzug durften sie weiter arbeiten und wurden nicht gekündigt«, fasst Cunga die frustrierende Situation zusammen. Gewerkschaften waren an diesen Protesten nicht beteiligt.

»Das ist auch ein gesellschaftliches Problem«, sagt Frank Hantke, ehemaliger Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Tirana. »Den Gewerkschaften in Albanien fehlt es an Glaubwürdigkeit und Erfolg, obwohl sich die Leute eine starke Interessensvertretung wünschen. Über 80 Prozent der Albaner wissen gar nicht, dass es überhaupt Gewerkschaften in ihrem Land gibt.« Wie in vielen postsozialistischen Ländern haben Gewerkschaften in Albanien ein Imageproblem. Die Aura des vergangenen stalinistischen Regimes haftet ihnen an. Das Mißtrauen der Menschen gegenüber den Nachfolgern der alten Staats- und Parteiorganisationen ist groß.

Zwar erhöhte sich der durchschnittliche Monatslohn nach offiziellen Angaben im vergangenen Jahr auf 339 Euro, doch auch die Lebenshaltungskosten steigen rapide. Obwohl es keine offiziellen Zahlen der albanischen Statistikbehörde Instat gibt, gehen zahlreiche NGOs von einem signifikanten Anstieg der Armut in Albanien aus. Löhne, Renten und Sozialleistungen sind seit 2013 unverändert niedrig, während sich die Verbraucherpreise stark erhöht haben, besonders im Bereich Energie und Lebensmittel.

Das albanische Institut für Kritik und gesellschaftliche Emanzipation beschreibt die Situation in einer Studie vom Januar 2017: »Die Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus berühren auch die Lebensgrundlagen derer, die bis vor kurzem noch der teilweise privilegierten Mittelschicht zuzurechnen waren.«

Abgesicherte sogenannte Normalarbeitsverhältnisse gibt es in Albanien kaum noch. Verlässliche Daten für atypische Arbeit sind allerdings auch begrenzt. Eine Studie der FES vom Februar 2017 gibt an, sie komme besonders häufig im Baugewerbe und im Dienstleistungssektor vor und habe dort eine steigende Bedeutung. Atypische Arbeit decke, so die Studie, etwa 30 Prozent der Gesamtbeschäftigung Albaniens ab und werde insbesondere von Frauen geleistet. Die Veränderungen des Beschäftigungsmusters betreffen vor allem den privaten Sektor. Dort entstehen neue, meist unsichere Arbeitsplätze, häufig ohne formale Anstellung, besonders im Baugewerbe. Die Studie des Instituts für Kritik und gesellschaftliche Emanzipation gibt an, dass in diesem Bereich 42 Prozent der Beschäftigten nicht legal beschäftigt seien. Diejenigen, die einen Arbeitsvertrag unterschrieben hätten, besäßen meist keine Kopie davon. Die für die Studie Befragten aus diesem Sektor beklagen, dass selbst diese Verträge oft von den Arbeitgebern nicht eingehalten würden. »Es ist üblich, dass die Bauarbeiter erst bezahlt werden, wenn die Gebäude fertiggestellt und die einzelnen Einheiten verkauft sind«, sagt Lushi.

Es gibt einen gesetzlichen Mindestlohn. Seit dem Jahr 2013 betrug er 22 000 Lek, etwa 165 Euro. Eine Woche vor Beginn des offiziellen Wahlkampfes erhöhte die Regierung unter Rama im Mai den Mindestlohn zum ersten Mal nach fünf Jahren auf 24 000 Lek, etwa 180 Euro.

»Auch diese Regelung wird systematisch unterlaufen«, gibt Meme zu Bedenken. »Offiziell wird der Mindestlohn überwiesen. Am Ende des Monats werden dann aber viele Arbeitnehmer gezwungen, einen Teil ihres Lohns in bar an den Arbeitgeber zurückzuzahlen. Die Gewerkschaften wissen das und sehen zu.«

Als EU-Beitrittskandidat hat Albanien seit einigen Jahren ein Betriebsratsgesetz, das jedoch praktisch nicht angewendet wird. Die Gewerkschaften lehnen es sogar ab, weil sie Konkurrenz fürchten. Wenn Betriebsräte in den Unternehmen tatsächliche Gewerkschaftsarbeit verrichteten, könnte das ihre ohnehin schwindende Bedeutung weiter schmälern.

Für die OP wäre das kein Verlust. Sie plant gerade eine Kampagne, um die Angestellten von Callcentern in Tirana zu organisieren. Im besten Fall soll dabei eine neue Gewerkschaft entstehen. Wie die aussehen soll, wissen die drei OP-Mitglieder noch nicht – am besten »ohne Hierarchien«.