Der Publizist Burak Bekdil über die Verhältnisse in der Türkei

»Erdogan braucht jede Stimme«

Gespräch mit Burak Bekdil, Publizist, über das bevorstehende Referendum in der Türkei und den Konflikt mit Deutschland
Interview Von

Noch vor einigen Jahren wurde die Türkei als Verbindungsglied zwischen Europa und dem Nahen Osten gehandelt. Sie galt als Vorbild. Was hat sich seitdem verändert?

Dass die Türkei jemals eine Vorbildfunktion hatte, halte ich für eine Übertreibung und einen schlechten Euphemismus für ein Land, das mehr oder weniger heimlich auf dem Weg zu einem mehrheitlichen Islamofaschismus war. Die Türkei war nie ganz europäisch oder ganz arabisch. Wenn wir bei der Metapher bleiben, muss das Land, um als Brücke zu fungieren, zunächst auf beiden Seiten fest verankert sein. Das war bei der Türkei nicht der Fall. Es hat sich eigentlich nichts verändert seit dieser Fehleinschätzung in einigen westlichen Staaten. Die Türkei ist, was sie war, und das ist, was sie heute ist: Keine hübsche Brücke, sondern eine mehrheitlich gewählte Autokratie.

In einigen Wochen soll die Entscheidung über das Präsidialsystem fallen. Der Ausgang der Abstimmung scheint sehr knapp zu werden. Wie ist derzeit die Stimmung in der Türkei?

Die Türkei steht vor einem Referendum, das eine substantielle Veränderung unter dem offiziellen Ausnahmezustand bedeuten könnte. Das gibt der Regierung die Möglichkeit, jegliche Opposition zum Schweigen zu bringen und beispielweise alle öffentlichen Veranstaltungen zu verbieten, die ihr missfallen. Die Regierung kontrolliert über 70 Prozent der Medien. Sie verfügt über eine riesige Propagandamaschine. Es gibt Hunderte von Beispielen, die belegen, welch großes Demokratie­defizit in der Türkei herrscht. Jede unabhängige und kritische Institution würde diese unangenehme ­Situation hervorheben. Die Türkei ist eine hybride Demokratie und ironischerweise ein EU-Beitrittskandidat. Wie auch immer das Ergebnis des Referendums ausfallen wird, es ist kein faires Spiel zwischen den Gegnern und den mächtigen Befürwortern. Unter diesen Bedingungen werden die Türken Erdoğan wahrscheinlich zum Staatschef und Vorsitzenden der Regierungspartei machen, der das Parlament abschaffen und sämtliche hohen Richter im Land einsetzen kann.

Was wären die gravierendsten Konsequenzen einer Einführung des Präsidialsystems?

Es wäre schlicht eine Autokratie. Aber was wäre der Unterschied im Vergleich zur jetzigen Situation? Momentan ist diese Autokratie verfassungswidrig. Erdoğan verletzt die Verfassung, indem er seine Macht und Autorität missbraucht. Es gibt keine unabhängige Judikative, die ihn dafür zur Rechenschaft ziehen würde. Er will seine Position mit Hilfe des Referendums legitimieren. Sollten die Befürworter gewinnen, wird Erdogan von einem de-facto-Autokraten zu einem de-jure-Autokraten werden.

Aus welchen Gründen stimmen die Befürworter mit »ja«?

Die meisten Befürworter glauben, dass das Referendum eine Wahl pro oder contra Erdoğan ist. Deshalb stimmen die meisten seiner Unterstützer mit »ja«. In Wirklichkeit ist es die Wahl zwischen der Legalisierung eines Regimes, in dem eine einzige Person zu viel Macht hat, und der Bewahrung des parlamentarischen Systems mit seiner Gewaltenteilung. Erdoğan mag die Vorstellung einer Gewaltenteilung nicht. Er möchte alle Macht in seinen Händen halten. Die Motive der Befürworter sind auch in ihrem religiösen Konservatismus zu suchen, ihrer Vorstellung von einer starken Wirtschaft und dem Zuspruch für Erdoğans nationalistische Rhetorik, die auf der neoosmanischen Illusion von Grandeur basiert.

Was würde passieren, sollte das Referendum scheitern?

Erdoğan wird wahrscheinlich noch in diesem Jahr vorgezogene Neuwahlen anstrengen, um mit einem neuen Parlament die Verfassungsänderungen zu überarbeiten und das Referendum zu wiederholen.

Ist das sein Führungsstil?

Er ist total autoritär, aber eben vorgeblich auf der Basis des »Volkswillens«. Er ist ein erfolgreicher Populist, dessen Produkt sich sehr gut auf dem Marktplatz der politischen Ideen verkauft. Er ist ein türkischer Putin, Modi, Duterte, Correa, Chávez – starke Männer, die ähnliche Wege gegangen sind. Er ist ein islamistischer Populist, weil die Mischung aus Islamismus und Nationalkonservatismus das derzeit erfolgreichste Produkt auf dem türkischen Politikmarkt ist. Im Gegensatz dazu stehen etwa im benachbarten Griechenland der Anarchokommunismus und verschiedene Strömungen der radikalen Linken, die dort erfolgreich sind. Das ist das Gleiche. Denn Populismus verkauft überall Ideologie und politische Kultur.

Was ist das islamistische an Erdoğans autoritärer Politik?

Erdoğan hat öffentlich erklärt, sein Ziel sei es, »gottesfürchtige Generationen« heranzuziehen. Er brüstet sich damit, dass während seiner Amtszeit die Zahl der Schüler an Imamschulen von 60 000 auf 1,2 Millionen gestiegen sei. Es gibt zahlreiche Beispiele seiner sunnitisch-islamistischen Überlegenheitsideologie.

Spielt der aktuelle Konflikt mit Deutschland eine Rolle für den Ausgang des Referendums?

Er spielt keine große Rolle. In der Regel wählen die Auslandstürken nicht so zahlreich wie ihre Landsleute in der Türkei. Dennoch braucht Erdoğan jede Stimme. Und bei den vergangenen Wahlen hatte Erdoğan ja auch Zuspruch von über 50 Prozent der Türken im Ausland.

Ist es überhaupt noch möglich, als Journalist in der Türkei zu arbeiten?

Nach 29 Jahren wurde meine Kolumne in der Hürriyet Daily News im vergangenen Dezember eingestellt. Aus Gründen, die jeder leicht erraten kann. In regierungsnahen und islamistischen Zeitungen wurde ich in den vergan­genen Jahren als Verräter oder Zionist diffamiert. Heute schreibe ich noch immer Artikel und Kommentare für verschiedene westliche Zeitungen. Aber in der Türkei auf Türkisch das zu schreiben, was ich möchte, ist heute fast unmöglich angesichts des Verfalls der Pressefreiheit.

Übt die Regierung auch Druck auf die Verlage aus?

In jeder Hinsicht. Verlage werden verklagt und eingeschüchtert, so dass es zu einer Art Selbstzensur kommt. Journalisten werden mit fadenscheinigen Begründungen inhaftiert, ihnen wird Terrorismus vorgeworfen. Diese Beispiele sollen eine abschreckende Wirkung haben. Die Verlage werden unter Druck gesetzt, kritische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlassen und sie durch regierungstreue zu ersetzen. Auch die Steuerbehörden üben Druck aus. Selbst Nutzerinnen und Nutzer von Social-Media-Kanälen werden juristisch belangt. Falls all das nicht funktioniert, übernimmt die Regierung einfach die Kontrolle über die Verlage oder Firmen, indem sie ihre eigenen Leute in den Aufsichtsräten platziert.