Der Prozess gegen die Geheimorganisation »Ergenekon« in der Türkei

Lizenz zum Töten

Im Prozess gegen die mutmaßlichen Verschwörer der Geheimorganisation Er­genekon fehlen bislang zwei im Sommer verhaftete pensionierte Generäle auf der Anklageliste.

Die erste Etappe des Verfahrens ist geschafft: Die 2 455 Seiten lange Anklageschrift im so genannten Ergenekon-Prozess wurde mittlerweile verlesen. Nun haben die 86 Angeklagten das Wort, zu den vielen Beschuldigungen auf der Grundlage des Anti-Terror-Gesetzes Stellung zu beziehen. Das Gericht im Gefängnis von Silivri, 40 Kilometer von Istanbul entfernt, rechnet mit einem monatelangen Prozedere. Die türkische Öffentlichkeit verfolgt den Prozess mit großer Aufmerksamkeit, denn er soll die Verstrickungen von Angehörigen der Staatsbürokratie und der Sicherheitskräfte in mafiotische Strukturen aufdecken. »Ergenekon« bezeichnet eine von ultranationalistischen Phantasien genährte Parallelwelt, deren Akteure sich die Lizenz zum Töten selbst ausstellten und unter anderem Jagd auf so genannte Feinde des Türkentums machten.

Einer dieser Feinde ist der Schriftsteller Orhan Pamuk. Der Nobelpreisträger für Literatur steht unter Polizeischutz, seit einer seiner Freunde, der armenisch-türkische Journalist und Schriftsteller Hrant Dink, im Januar 2007 auf offener Straße erschossen wurde. Es kursierten Gerüchte, Ultranationalisten machten Jagd auf Prominente, die sich zu den in der Türkei kontrovers diskutierten Fragen kritisch geäußert hatten. Dink galt als die Schlüsselfigur des Dialogs mit den Armeniern und war wegen »Verunglimpfung des Türkentums« 2006 zu einer Gefängnisstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Orhan Pamuk wurde wegen Kommentaren zur Kurden- und Armenierfrage ebenfalls angeklagt, jedoch freigesprochen.
Trotzdem gilt er Nationalisten wie dem jetzt im Ergenekon-Prozess selbst angeklagten Anwalt Kemal Kerinçsiz, der die Prozesse gegen die beiden prominenten Intellektuellen anzettelte, als »Vaterlandsverräter«. Auch gegen Pamuk existierten konkrete Mordpläne, wie der Schriftsteller im türkischen Fernsehsender Kanal D Mitte Oktober berichtete. Die Polizei hatte ihm mitgeschnittene Telefonate vorgespielt, in denen das geplante Attentat besprochen wurde. Ort des Geschehens sollte demnach das bekannte und beliebte Restaurant »Refik« im Istanbuler Stadtteil Beyoglu sein, der Mörder sollte eine Million Dollar »Kopfgeld« bekommen.

Das nationalistische Netzwerk Ergenekon wird in der Türkei vielfach auch als »tiefer Staat« bezeichnet. Denn seine Mitglieder kommen aus staat­lichen Strukturen, aus den Reihen der Polizei, des Militärs und der Justiz. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, militant gegen alles vorzugehen, was ihrer Ansicht nach als Bedrohung des Landes und des »Türkentums« angesehen wird.
Ein halbes Jahr nach der Ermordung Dinks entdeckte die Istanbuler Polizei aufgrund eines Hinweises im Istanbuler Stadtteil Ümraniye bei einer Hausdurchsuchung ein Depot von Handgranaten, TNT-Stangen und Zündern; offenbar hatten es Mitglieder einer nationalistischen Gruppierung angelegt. Granaten derselben Produktionsserie waren bereits bei früheren Anschlägen verwendet worden. Die Polizei weitete ihre Ermittlungen aus. Unter anderem stellten die Sicherheitskräfte auf dem Computer eines pensionierten Unteroffiziers namens Oktay Yildirim ein Dokument mit dem Titel »Ergenekon« sicher. Darin werden die Struktur und die Ziele eines paramilitärischen Geheimbundes namens »Ergenekon« – nach dem Mythos des türkischen Urvolkes in Zentralasien – beschrieben. Ziel des Geheimbundes soll ein gewaltsamer Umsturz der islamischen Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gewesen sein. Nach den Ermittlungsergebnissen existierten Pläne für gewalttätige Demonstrationen in rund 40 türkischen Städten und für Attentate, um eine Staatskrise herbeizuführen, die autoritär gelöst werden sollte.
Orhan Pamuk war nur einer der Namen auf der Todesliste. Weiterhin sollten etwa der Bürgermeister von Diyarbakır, Osman Baydemir, und der Vorsitzende der prokurdischen »Partei für eine Demokratische Gesellschaft«, Ahmet Türk, ermordet werden. Mit derartigen Attentaten habe »Ergenekon« die islamische Regierung Erdogan in Verruf bringen wollen: Der Anklageschrift zufolge war die Gruppe 2006 damit erfolgreich, als der Mord an einem Richter des Obersten Verwaltungsgerichts in Ankara einem Islamisten zugeschrieben wurde.

Inzwischen gibt es konkrete Hinweise, dass die Nationalisten in die Tat verwickelt waren. Eine der wichtigsten Figuren unter den Angeklagten ist der pensionierte Brigade-General Veli Küçük. Seit seiner Pensionierung ist er Teilhaber an der »Stratejik Güvenlik, Koruma ve Egitim As«, einer privaten Sicherheitsfirma für »strategische Sicherheitskonzepte, Personenschutz und Ausbildung«. Der Besitzer des Hauses, in dem das Waffendepot und die Dokumente in Ümraniye gefunden wurden, arbeitete für Küçüks Firma. Auch der Attentäter, der den Anschlag auf das Oberste Verwaltungsgericht verübte, Alparslan Arslan, stammt aus dem Umfeld des Ex-Generals. Es sieht so aus, als habe Veli Küçük die Methoden, die er aus seiner Dienstzeit gewohnt war, auch als Zivilist auf illegale Art und Weise fortgeführt. Er gilt als einer der Gründer der so genannten Jitem, einer geheimen Spezialeinheit, die in den neunziger Jahren Under-cover-Operationen gegen Regimegegner durchführte. Vor allem die PKK und die linksradikalen Organisationen standen auf ihrer Abschussliste. Die Einheit war für ihre Erschießungskommandos berühmt und berüchtigt.
Küçük war bereits ein zentraler Name bei den Ermittlungen zur »Susurluk-Affäre«. Zahlreiche Telefongespräche mit dem gesuchten Mörder Abdullah Çatlı, der 1996 mit einem Polizeipräsidenten und einem Abgeordneten der konservativen Partei der damals regierenden Ministerpräsidentin Tansu Çiller nahe der westanatolischen Stadt Susurluk mit dem Auto verunglückte, hatten die Fahnder ihm damals nachweisen können. Küçük, damals noch Offizier, wurde nicht einmal vor den parlamentarischen Untersuchungsausschuss geladen.

Als Motiv des nationalistischen Geheimbundes Ergenekon steht vor allem der Glaube an den starken Nationalstaat und seine selbsternannten Scharfrichter im Vordergrund. Im Schatten des Anti-Terror-Kampfs mischen Ergenekon und Co. auch im Drogen- und Waffenhandel mit – Geschäfte, die in Zeiten des Kampfes mit angeblichen äußeren und inneren Feinden blühen und gedeihen. Eine fortschreitende Demokratisierung der Türkei, so hoffen viele, wird solche Strukturen auf die Dauer obsolet werden lassen. Die Ultranationalisten sind erklärte EU- und Reformgegner. Es ist derzeit unklar, ob die Beziehungen zum Staatsapparat und den höheren Rängen des Militärs diesmal, anders als beim Susurluk-Prozess, aufgerollt werden. Die beiden höchstrangigen Militärs, die während der Ermittlungen festgenommen wurden – die pensionierten Vier-Sterne-Generäle Hursit Tolon und Sener Eruygur, der als Chef der Gendarmerie Mitglied des Generalstabs war –, gehören nicht zu den Angeklagten.