Die Realos unter den Fundis

Die Attentate in London folgten dem Muster von Madrid. Die britische Regierung soll zum Abzug ihrer Truppen aus dem Irak gezwungen werden. von jörn schulz

Ich verstecke mich nicht, und ich bin kein Terrorist«, behauptete der wohl meistgesuchte Mann Großbritanniens. Nachdem britische Medien Muhammad al-Guerbouzi als den Hauptveranwortlichen für die Anschläge in London bezeichnet hatten, rechtfertigte sich der Migrant aus Marokko in einem Interview mit dem Fernsehsender al-Jazeera. Die britischen Ermittlungsbehörden und Europol weigerten sich am Wochenende, konkrete Verdachtsmomente gegen einzelne Personen zu bestätigen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass für die jüngsten Anschläge die gleiche Gruppe des al-Qaida-Netzwerks verantwortlich ist, die im März 2004 die Attentate in Madrid verübte.

Das erste Bekennerschreiben einer »Geheimen Organisation der al-Qaida in Europa« wird von den meisten Experten als nicht authentisch betrachtet. Am Samstag folgte jedoch ein weiteres Schreiben, diesmal von der »Europäischen Division der Brigaden Abu Hafs al-Masri«, die sich zuvor unter anderem zu den Anschlägen in Madrid bekannt hatten. Auch die Ermittlungsbehörden und Geheimdienste wissen offenbar nicht viel über die Struktur der Gruppen, die unter diesem Namen agieren. Sicher ist jedoch, dass sie eine Basis in Marokko haben und in Europa handlungsfähig sind.

Die al-Masri-Brigaden sind die wichtigsten Vertreter einer Strömung im al-Qaida-Netzwerk, die eine »realpolitische«, auf messbare Erfolge abzielende Strategie befürwortet. Zu ihren ideologischen Grundlagen gehört das im Dezember 2003 im Internet veröffentlichte Strategiepapier »Jihad im Irak: Hoffnungen und Gefahren«, in dem diskutiert wird, wie die europäischen Beteiligten an der »Koalition der Willigen« zum Abzug ihrer Truppen aus dem Irak gezwungen werden können. In Spanien sei diese Chance am größten. Doch auch in Großbritannien gebe es bedeutende Proteste: »Wenn die Spaltung zwischen der Regierung und der Bevölkerung in Großbritannien den gleichen Prozentsatz erreicht (wie in Spanien), würde die Regierung Blairs stürzen.«

Alle bislang bekannt gewordenen Fakten sprechen dafür, dass die Anschläge in London in diesem Kontext stehen. Nur eine gut organisierte Gruppe, die auf das Wissen eines Sprengstoffexperten zurückgreifen kann, ist in der Lage, vier Bomben fast gleichzeitig detonieren zu lassen. Wie in Madrid war das Ziel der öffentliche Nahverkehr, der Terror wird als Strafgericht für die Bevölkerung betrachtet, die es versäumt hat, ihre Regierung an der Kriegsteilnahme zu hindern.

In Madrid war es das Ziel, die Wahlen zu beeinflussen. Es ist zwar fraglich, ob der Sozialdemokrat José Luis Rodríguez Zapatero die Wahlen gewonnen hätte, wenn die konservative Regierung nicht mit beispielloser Inkompetenz auf die Anschläge reagiert hätte. Dennoch haben die Masri-Brigaden den spanischen Abzug aus dem Irak als Erfolg gewertet. Die Attentate in London fanden während des G 8-Gipfels statt, den der britische Premierminister Tony Blair nutzen wollte, um sich als Freund der Armen und der Umwelt zu präsentieren.

Blair hat die Wahlen im Mai zwar gewonnen, doch seine Position ist so schwach, dass seine Ablösung durch einen anderen Premierminister der Labour-Partei in zwei Jahren erwartet wird. Ständig neue Enthüllungen über Kriegslügen und die Folterpraktiken britischer Soldaten haben den Irak-Krieg nicht populärer gemacht. Nun bleibt Blair der erhoffte spektakuläre außenpolitische Erfolg versagt, der insbesondere seine linken Kritiker vielleicht hätte besänftigen können. Der politische Druck auf ihn könnte weiter wachsen, auch in etablierten Zeitungen wie dem linksliberalen Guardian finden sich Kommentare, die den Abzug der britischen Truppen aus dem Irak empfehlen, um weitere Anschläge zu vermeiden.

Für die Terroristen der al-Qaida ist der Irak jedoch nur ein austauschbares Symbol. »Sie finden dort ein Territorium für den Jihad«, urteilt der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy. »Ihre Brüder sind nicht die Iraker, sondern die anderen internationalistischen Freiwilligen.«

Die Aktivisten der al-Qaida sehen sich als Avantgarde eines globalen Jihad. Es ist ihnen gelungen, viele der im nationalstaatlichen Rahmen gescheiterten Islamisten zu rekrutieren. Die Führungskader und die im Westen aktiven Terroristen gehören jedoch überwiegend einer Schicht von »wieder geborenen« Muslimen an, die eher dem Wunschprofil eines transnationalen Konzerns für Führungskräfte entsprechen als dem Klischeebild des griesgrämigen »Hasspredigers«.

»Weit davon entfernt, eine traditionelle religiöse Gemeinschaft oder Kultur zu repäsentieren, brachen die meisten dieser Militanten mit ihrer Vergangenheit und erfuhren eine individuelle Reislamisierung in einer kleinen Zelle von entwurzelten Mitstreitern«, schreibt Roy. Sie werden nicht Terroristen, weil sie besonders religiös sind. »Sie wurden erst religiös, nachdem sie sich dem Jihad angeschlossen hatten«, stellte Marc Sageman fest, ein Psychiater und ehemaliger CIA-Offizier in Afghanistan, der die Persönlichkeitsprofile von 400 islamistischen Terroristen untersuchte.

Jihadisten sind teamfähig und kommunikativ, häufig leben sie in Wohngemeinschaften zusammen. Psychische Krankheiten und Persönlichkeitsstörungen sind unter ihnen weniger verbreitet als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Der typische im Westen agierende islamistische Terrorist ist ein etwa 30jähriger Familienvater, der aus der oberen Mittelschicht stammt und ein Studium in angewandten Naturwissenschaften abgeschlossen hat. Etwa 70 Prozent der von Sageman untersuchten Persönlichkeitsprofile entsprachen diesem Muster.

Die meisten islamistischen Terroristen sind weder arm noch interessieren sie sich für die Bekämpfung der Armut. Über ihre psychologischen Motive ist noch wenig bekannt. Offenbar wollen sie eine empfundene Erniedrigung durch das Gefühl der Macht kompensieren, das sie gewinnen, wenn sie über Leben und Tod anderer Menschen entscheiden.

Greifbarer sind die politischen Ziele. Al-Qaida will den Abzug westlicher Truppen aus der islamischen Welt erzwingen und hofft, die ihrer Verbündeten beraubten Regierungen dann stürzen zu können. Das Endziel aber ist die Eroberung der Welt, der nächste Programmpunkt nach einem Abzug der westlichen Truppen wäre die Rückgewinnung des »Dar al-Islam«, all jener Gebiete, die irgendwann einmal unter islamischer Herrschaft standen: Spanien, Portugal, Israel, Teile Russlands und Indiens, Osttimor und weitere Gebiete. Seit Teile der al-Qaida realpolitische Erfolge anstreben, häufen sich zudem die Versuche, die westlichen Gesellschaften direkt zu beeinflussen. Im Irak forderten islamistische Entführer im vergangenen Jahr die Aufhebung des Schleierverbots an französischen Schulen, der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh sollte Islam- und Islamismuskritiker einschüchtern.

Es gibt Gründe genug, die westliche Nah- und Mittelost-Politik zu kritisieren, nicht zuletzt, weil sie antiislamistische Mobilisierungen eher behindert als fördert. Es gibt jedoch keine Rechtfertigung dafür, die Propaganda des al-Qaida-Netzwerks wiederzukäuen, das immer wieder bewiesen hat, dass es zu den gefährlichsten Feinden der Linken gehört.