Feindliche Rentner

Die Anhörungen zu Guantánamo von jörn schulz

Sie haben einem Muslim Ihre Fotos vom Urlaub in New York gezeigt, ohne sich zu fragen, warum er sie sehen will? Oder haben Sie womöglich einem Araber Sprachunterricht gegeben, ohne darüber nachzudenken, warum er eigentlich eine Fremdsprache lernen will? Dann könnten Sie ein enemy combatant (feindlicher Kämpfer) sein, dem ein längerer Aufenthalt in Guantánamo droht.

Diese Rechtsauffassung vertrat Staatsanwalt Brian Boyle als Vertreter des Justizministeriums in der vergangenen Woche bei einer Anhörung vor dem Distriktgericht in Washington. Richter Joyce Hens Green wollte wissen, ob eine »alte Dame in der Schweiz« interniert werden könne, die Geld für Waisenkinder in Afghanistan gespendet habe, wenn dieses Geld ohne ihr Wissen in die Kasse der al-Qaida geflossen sei. »Sie könnte«, antwortete Boyle, denn »die Absicht ist kein Faktor, der die Inhaftierung verhindern würde«. Einspruch erheben könnte sie nicht, da sie »keine verfassungsmäßigen Rechte« hat.

Im Juni hatte das Oberste Gericht entschieden, dass die US-Regierung zwar Sonderregelungen für enemy combatants dekretieren, ihnen aber nicht jeglichen Zugang zum US-Justizsystem versperren dürfe. Seitdem wird vor Gericht darüber gestritten, was dieses Urteil in der Praxis bedeutet. Im August hatte Boyle gefordert, die Anwaltsgespräche abhören zu dürfen. Das ging Richterin Colleen Kollar-Kotelly zu weit. Ihr Kompromissvorschlag sah vor, pro Inhaftiertem einem Anwalt unkontrollierten Zugang zu gestatten. Ohne Genehmigung der Regierung sollte der Anwalt jedoch nicht über die Aussagen seines Mandanten sprechen dürfen, bei Verstößen würde ihm die Todesstrafe drohen.

Boyle fand das »nicht praktikabel«, er erwartet vom Abhören der Anwaltsgespräche wichtigere Erkenntnisse als von den Verhören. Indirekt räumte er damit ein, dass die Ausbeute für den »Krieg gegen den Terror« bisher gering war, obwohl die Verhörmethoden in einem in der vergangenen Woche von der New York Times veröffentlichten Bericht auch vom Roten Kreuz als »gleichbedeutend mit Folter« bezeichnet wurden. Hochkarätige Terrorverdächtige wurden ohnehin nie in Guantánamo inhaftiert, sondern im Irak, in Afghanistan oder in den Gefängnissen verbündeter islamischer Staaten.

Der Zweck des Gefangenenlagers an der kubanischen Küste dürfte daher vor allem die Festlegung neuer Rechtsstandards sein. Die von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweise werden dort ohne Überprüfung als Tatsachen gewertet, und die Rechte der Verteidigung sind extrem beschränkt. Die Inhaftierung spendender Rentnerinnen dürfte zwar nicht im Interesse der US-Regierung liegen, Boyles Definition des enemy combatant erlaubt jedoch eine Kriminalisierung jeder Handlung oder Meinungsäußerung, die von der US-Regierung als Unterstützung des Terrorismus gewertet wird. Und nach Ansicht mancher republikanischen Wahlkämpfer erfüllt bereits eine Stimmabgabe für John Kerry diesen Tatbestand.

Nach aller bisherigen Erfahrung werden Einschränkungen der Bürgerrechte für Ausländer sehr schnell zur allgemeinen Praxis. Zuständig dafür wären Alberto Gonzales, der neue Attorney General, dessen Memorandum vom Januar 2002 die Verhörregeln der Genfer Konvention für »überholt« erklärte, und Bernard B. Kerik, der in der vergangenen Woche zum neuen Leiter des Department of Homeland Security ernannt wurde. Rerik setzte als Polizeichef in New York die Politik der Zero Tolerance durch und ist kein Freund von Dissidenz: »Politische Kritik ist der beste Freund unserer Feinde.«