Die Wunder des Prekarius

Mit ein wenig Folklore und spektakulären »Enteignungsaktionen« mobilisiert die italienische Bewegung gegen prekäre Arbeit. von federica matteoni

Er trägt ein Bandana und einen blauen Arbeiteroverall, über seinem Kopf schwebt ein Heiligenschein. So zeigt sich San Precario bzw. der Heilige Prekarius, »Beschützer aller Prekären auf Erden«, seinen Verehrern. Heilig gesprochen wurde er am 1. Mai beim »Euromayday«, dem europäischen Tag gegen prekäre Arbeit, der dieses Jahr zum dritten Mal in Mailand stattfand. Seinen ersten offiziellen Auftritt hatte der Heilige auf einer Demonstration gegen Prekarisierung in Rom Anfang November, an der ca. 20 000 Personen teilnahmen. In den vergangenen Wochen besuchte San Precario auch Neapel, Bologna, Florenz und Venedig, und der Kreis seiner Anhänger wird immer größer. Sie nennen sich »Netzwerk gegen soziale Prekarisierung« und verstehen sich als selbst organisierte Plattform für die Mobilisierung von prekär Beschäftigten, Arbeitslosen und all denjenigen, die im Bereich der – durch die 2003 verabschiedete Arbeitsreform institutionalisierten – so genannten atypischen Arbeitsverhältnisse beschäftigt sind (Jungle World, 36/03). Mobilisieren lässt sich am besten, wie Angehörige der italienischen globalisierungskritischen Bewegung genau wissen, durch spektakuläre Aktionen, durch Medienresonanz, durch »werbewirksame« Kampagnen.

Das neue Beispiel dafür könnte man als Pop-Version der in den siebziger Jahren bekannten und häufig praktizierten »proletarischen Enteignungen« beschreiben. Es nennt sich »Shopsurfing«. Das geht so: Eine große Gruppe – mindestens 100 Leute – marschiert zum nächsten Einkaufszentrum, blockiert den Parkplatz, verteilt Flugblätter, die über die Bedeutung der Aktion informieren. Eine Gruppe geht rein, füllt zehn bis 20 Einkaufswagen und ruft dabei über Megaphon alle anderen Kunden dazu auf, eine »Selbstreduzierung der Preise« zu praktizieren. Dann werden die Kassen blockiert. Mit der Leitung des Einkaufszentrums wird über eine Preisreduzierung von mindestens 30 Prozent für alle im Supermarkt anwesenden Kunden verhandelt.

Es kann natürlich passieren, dass die Leiter keine Bereitschaft zur Verhandlung zeigen, wie in Rom nach der Demonstration Anfang November. In diesem Fall wird die Kasse einfach ignoriert, und die »enteigneten« Waren – zumindest ein Teil davon – werden dann vor dem Eingang verteilt. In Neapel, berichten einige Shopsurfers, habe sich die Leitung des Einkaufszentrums »kooperativ« gezeigt die Aktionen seien größtenteils erfolgreich ausgegangen, mit entsprechender Preisreduzierung und Kundenfreude.

Shopsurfing wird aber nicht nur in Supermärkten praktiziert. In Rom, Bologna und Florenz fanden die Aktionen auch in großen Buchhandlungen statt, und auch hier wurde, meist erfolgreich, über eine Preisreduzierung bis 70 Prozent verhandelt. Die Resonanz in den Medien war in den letzten Tagen groß, die Shopsurfers wurden dabei mal als »metropolitane Robin Hoods«, mal als Kommunikationsguerilleros, viel öfter jedoch als »Kriminelle und Ladenplünderer« beschrieben.

Sie selbst definieren sich als ein neues soziales Subjekt, das durch diese Aktionen zum Ausdruck kommt: »Das sind die Prekären, die mit neuen Formen des Ungehorsams in die Zukunft blicken«, erklärt Luca Casarini, Sprecher der Bewegung der Disobbedienti, der »Ungehorsamen«, der Tageszeitung La Repubblica. Dabei handelt es sich keineswegs um ein einheitliches Subjekt. Neben den »Ungehorsamen«, die regelmäßig die Szene des politischen Aktionismus mit medienwirksamen Kampagnen zu erobern suchen, mobilisieren sich prekarisierte Arbeiter aus verschiedenen Bereichen, freie Mitarbeiter, so genannte Scheinselbständige, Teilzeitarbeiter, »Chainworkers«, die in Callcenters, großen Restaurant- oder Einkaufsketten beschäftigt sind, organisierte Arbeitslose aus Süditalien, Billigjobber und »kognitive« Arbeiter im Kultur- oder Medienbereich. Alle zusammen bilden sie die »Große Prekäre Allianz«, wie das Netzwerk auch heißt, in ironischer Anspielung auf die »Große Demokratische Allianz«, auf den Namen, mit dem die Mitte-Links-Koalition mit Romano Prodi als Spitzenkandidat und die Kommunisten von Rifondazione bei den Parlamentswahlen 2006 antreten wollen.

Diskutiert wird innerhalb dieser heterogenen Konstellation vor allem im Internet, auf der – auch in englischer Sprache abrufbaren – Mailing List der »Precogs« (Prekär-Kognitäre). Hier steht »Prekarität« nicht nur für die spezifischen Arbeitsbedingungen auf dem zunehmend deregulierten Arbeitsmarkt. »Prekär« wird als Begriff benutzt, der die Existenz vieler Menschen umfasst und der den fehlenden Zugang zu den sozialen Grundrechten bezeichnet. Prekär ist nicht nur die Arbeit, sondern das ganze Leben, lautet die Botschaft. Dagegen sollen Widerstandsformen entwickelt und nicht reformistische Sozialpolitik betrieben werden, wie sie den Gewerkschaften vorgeworfen wird. Deshalb hat das prekäre Netzwerk am Generalstreik am 30. November nicht teilgenommen: »Wir brauchen keinen Streik, wir nehmen uns, was wir brauchen.«

Anstatt aber das Thema prekäre Arbeit in den Vordergrund der politischen Debatte zu stellen, haben die spektakulären Ladenbesuche der Aktivisten in den vergangenen Tagen bewirkt, dass fast nur über die Form der Aktion und nicht über ihren Sinn diskutiert wurde. So drehte sich die öffentliche und auch bewegungsinterne Debatte vorrangig um die Definition von »Enteignung« – heißt das »klauen« oder nicht? Und: Darf man klauen oder darf man nicht?

Die bislang der Bewegung nahe stehende Partei Rifondazione Comunista (PRC) hat in den vergangenen Monaten – seit der Entscheidung, die »Große Demokratische Allianz« zu unterstützen – einen eindeutigen Richtungswechsel vollzogen und sich immer wieder von den Aktionen und Positionen der Bewegung distanziert. Scharf verurteilte Parteichef Fausto Bertinotti die »Enteignungen« in Rom als sinnlose Aktionen, »die nur dazu beitragen, eine Gewaltspirale in Gang zu setzen«. Rifondazione glaube immer noch »an eine monolithische Vorstellung von der Arbeiterklasse«, kommentiert Francesco Caruso von den süditalienischen »Ungehorsamen«, »sie unterschätzt unsere Kampfformen, sie nimmt das neue soziale Subjekt nicht wahr«.

Wer das »neue soziale Subjekt« viel ernster zu nehmen scheint, ist der italienische Innenminister Giuseppe Pisanu. Die Ähnlichkeiten mit den proletarischen Enteignungen der Autonomen in den siebziger Jahren sind seiner Meinung nach »allzu deutlich«, und er verspricht eine »Null-Toleranz«-Strategie. Dabei liegt der von ihm in Anschlag gebrachte Vorwand auf der Hand: Der Protest richtet sich gegen eine Arbeitsreform, die von der Regierung gerne »Gesetz Biagi« genannt wird, nach dem Arbeitsrechtsprofessor und Berater des Arbeitsministeriums Marco Biagi, der im März 2002 von den Roten Brigaden in Bologna ermordet wurde. Die daraus resultierende Gleichung lautet: Wer gegen das »Gesetz Biagi« protestiert, kann dem ideologischen Umfeld der Täter zugeordnet werden.