Aufstand in der Kabylei

Bouteflikas Sorgen

Am Anfang standen Demonstrationen zum Gedenken an den »berberischen Frühling« von 1980, als Proteste gegen die Benachteiligung der berberischen Minderheit und ihrer Sprache, des Tamazight, zu harten Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht geführt hatten. Als die Polizei verhaftete Jugendliche misshandelte und der Gymnasiast Massinissa Guermah am 18. April im Polizeikommissariat von Beni Douala starb, kam es zum Aufstand. Den Jugendlichen, die in den letzten zwei Wochen in der Kabylei revoltiert haben, geht es jedoch nicht in erster Linie um Sprachprobleme.

Die meisten Presseberichte stimmen darin überein, dass bei dem Aufstand soziale Fragen im Vordergrund stehen; diese Einschätzung wurde auch in den Gesprächen bestätigt, die ich mit Zeugen der Ereignisse in mehreren kabylischen Städten führte. Für junge Leute ist eine Wohnung außerhalb des Elternhauses unerschwinglich, die meisten müssen sich wegen der massiven Arbeitslosigkeit, die im ganzen Land nach offiziellen Angaben 30 Prozent beträgt, mit Gelegenheitsjobs und Tätigkeiten im informellen Sektor durchschlagen. Wegen der Vernachlässigung der Region durch den Zentralstaat ist die soziale Lage in der Kabylei schlechter, doch die Jugendlichen in anderen Landesteilen haben die gleichen Probleme.

So bemühten sich die Aufständischen auch, die arabischsprachigen Landesteile zu erreichen. Eine Lehrerin aus der Regionalhauptstadt Bejaia berichtete Jungle World, die Studierenden der Universtät jener Stadt hätten einen Beschluss gefasst, der es den studentischen Protestteilnehmern verbietet, Reden in Tamazight zu halten; damit sie in anderen Landesteilen verstanden werden, sollen sie sich in Arabisch oder auch Französisch ausdrücken. Fernsehteams, die Passanten in Bab el-Oued, einem der ärmeren Viertel Algiers, befragten, bekamen von jüngeren Leuten nur Positives über die Revolte in der Kabylei zu hören.

In den arabischen Landesteilen allerdings gibt es einen Bruch zwischen den Generationen, und viele, die älter als dreißig Jahre sind, sehen die Ereignisse als Bedrohung der Zukunft des Landes. Doch über zwei Drittel der 30 Millionen Einwohner sind jünger als 30 Jahre, und die meisten von ihnen haben angesichts der sozialen Krise, der sexuellen Unterdrückung und eines extrem repressiven Familienmodells kaum etwas zu verlieren.

In Bejaia wird die Revolte von einer sozialen Infrastruktur aus Komitees in den Stadtvierteln, kämpferischen Gewerkschaftssektionen vor allem des Lehrpersonals und studentischen Gruppen mitgetragen. Andernorts aber fehlt dieses organisierte Element, auch den Islamisten ist es nicht gelungen, die Revolte zu vereinnahmen. Das Fehlen politischer Strukturen scheint dem Regime von Präsident Abdelaziz Bouteflika mittlerweile Sorgen zu bereiten, denn einer solchen tief sitzenden gesellschaftlichen Unruhe ist nur schwer beizukommen, wenn es an Ansprechpartnern auf Seiten der Rebellierenden fehlt.

Nachdem der kabylische RCD (Sammlung für die Kultur und die Demokratie) am vorletzten Dienstag aus der algerischen Regierungskoalition ausgetreten ist, deutet nun einiges darauf hin, dass das Regime versucht, den mit dem RCD rivalisierenden kabylischen FFS (Front der Sozialistischen Kräfte) - bisher eine Oppositionskraft - zumindest zum Gesprächspartner aufzubauen. Der Protestmarsch des FFS am vergangenen Donnerstag in Algier war mit rund 25 000 TeilnehmerInnen ein Erfolg. Zuvor war die Demonstration vom algerischen Fernsehsender ENTV mit Ort und Uhrzeit angekündigt worden. Noch ungewöhnlicher war, dass Bouteflika sein Verständnis für die revoltierenden Jugendlichen äußerte.

Seit seinem Amtsantritt im Jahr 1999 versucht der Präsident erfolglos, ein bonapartistisches Regime zu etablieren, das eine direkte Verbindung zur Bevölkerung herstellt. Nachdem die Jugend der Kabylei auf ihre Weise dem Regime die Meinung gesagt hat, sucht Bouteflika nun verzweifelt nach Vermittlern.