Altstadt von Thessaloniki

Boom gegen Barbara

Eurotop V: Die Altstadt von Thessaloniki wird eingestampft - Hochhäuser umzingeln die alten Bewohner.

Ela do paidi mou« - komm her mein Kind, ruft die 81jährige Marika, wenn ich an ihrem Haus vorbeigehe. Sie wohnt in einem der kleinen einstöckigen Häuser der Ano Poli, der Altstadt von Thessaloniki, und ist meine Nachbarin. Dann lädt sie mich ein, auf ihrem Balkon einen griechischen Café zu trinken. Einen »starken Türkischen«, wie Marika sagt, denn eigentlich kommt sie aus Istanbul. 1922/23 wurde sie wie Millionen anderer GriechInnen und TürkInnen vertrieben. Der zwischen Eleftherios Venizelos und Kemal Atatürk vereinbarte »Bevölkerungsaustausch« sorgte dafür, dass rund 3o ooo TürkInnen Thessaloniki verlassen mussten. Noch mehr GriechInnen aus der Türkei strömten damals in die nordgriechische Hafenstadt. Die ursprünglich »türkische« Ano Poli mit den flachen Häusern wurde zu ihrem dauerhaften Exil.

Viele der Zugezogenen bauten sich provisorische Hütten, die wie Schwalbennester an der Stadtmauer klebten und erst im Laufe der Jahre zu festen Häusern wurden. »Illegal«, befanden die Stadtoberen in den siebziger Jahren. Bei der Sanierung der Altstadt sollten die Nester abgerissen werden. Doch bis Mitte der achtziger Jahre wurden solche Pläne nur selten umgesetzt, weil es zu teuer war, die engen, steilen Gassen der Altstadt für Baufahrzeuge zu verbreitern.

Thessaloniki boomte, und das schnelle Geld wurde mit dem Bau großer Mietskasernen in der typischen Stahlbeton-Bauweise verdient. Die Stadt wuchs in einem enormen Tempo entlang des Thermaischen Golfes. 1990 war sie schließlich nach Athen die zweite griechische Millionenstadt.

Nur in der Altstadt blieb die postkartenhafte griechische Idylle lange erhalten: Menschen, die vor ihren Häusern sitzen, Bäume, Blumen, Hühner und Ziegen, in den Cafés politisieren alte Männer. Marika verkauft noch immer ihre Eier an die Nachbarschaft. Mit 4o Drachmen (25 Pfennig) das Stück ist sie zwar teurer als der Supermarkt, doch dafür stammen ihre Eier nicht aus der Massenhaltung. Mit ihrer Schwester redet sie türkisch - wie viele alte Leute in der Ano Poli. Allerdings ändert sich auch hier einiges. Schon lange kann Marika ihre Ochsen nicht mehr mitten in der Stadt halten, der Autoverkehr nimmt zu, und langsam wird die gesamte Altstadt saniert oder abgerissen.

1997 war Thessaloniki Kulturhauptstadt Europas. Athen und die EU versprachen Milliarden von Drachmen. Neben unzähligen Konzerten, Ausstellungen und Aufführungen wurden auch einige Verbesserungen des Stadtbildes geplant. Im Zentrum ließ man eine Fußgängerzone anlegen, und auch die Ano Poli sollte endlich auf modernen, europäischen Standard gebracht werden. 14 seit Jahren leer stehende, denkmalgeschützte Gebäude wurden Stück für Stück abgetragen und originalgetreu wieder aufgebaut, um »das traditionelle Gesicht der Stadt zu bewahren«. Beim fünfzehnten Kulturdenkmal scheiterte diese Art der Traditionspflege. Denn das Gebäude am Koule Kafe-Platz war das seit Anfang 1994 besetzte, anarchistische Kulturzentrum Villa Barbara. Die Szene drohte, »die glitzernde Fassade der Kulturhauptstadt« im Falle einer Räumung »in Schutt und Asche« zu legen.

Auch andere Projekte der Stadtplaner ließen sich nicht so einfach umsetzen, etwa der Bau einer breiten Diagonale quer durch die Altstadt. Kaum rollten die ersten Bagger, bildete sich gegen den geplanten Kahlschlag eine Koalition aus bürgerlichen AltstadtschützerInnen und anarchistischen BesetzerInnen. Nach zwei Monaten fast täglicher Protestaktionen mit teilweise handgreiflichen Auseinandersetzungen schien der Kampf verloren.

Schließlich gelang es Marika, den Bau gerichtlich zu stoppen. Damit die Trasse auf der Höhe der gegenüberliegenden Neubauten verläuft, müsste sie um drei Meter angehoben werden. Marikas Fenster würden zugemauert. »Unzulässig«, entschied das Gericht. Daraufhin versuchten die Stadtoberen, Marika zu ködern. Wenn sie den Bau der Straße erlaube, dürfe sie bei einem späteren Neubau auf ihrem Grundstück ein Stockwerk höher bauen als die Nachbarn - was mehr Mieteinnahmen mit sich bringen würde, nach dem Bebauungsplan in der Altstadt aber nicht erlaubt ist. Doch Marika lehnte ab, die Straße wurde nicht gebaut.

Schließlich wurde bis auf weiteres auch der geplante Abriss der alten Häuser an der Stadtmauer verhindert. Der »Parkplatz mit Grünstreifen« entlang der Mauer wurde aus den Plänen gestrichen. Die Szene aus der Villa Barbara besetzte zwei weitere leer stehende Häuser. Die von Enteignung bedrohten NachbarInnen verbündeten sich mit den BesetzerInnen und drohten, sich gemeinsam mit ihnen den geplanten Räumungen zu widersetzen. So beschränkte sich die Kulturhauptstadt darauf, in der Ano Poli einige Straßenzüge neu zu streichen. Ob bewohnt oder leer stehend, Steinhaus oder Holzschuppen - für die TouristInnen im Sommer sollte die Altstadt in neuem Glanz erstrahlen.

Die vorläufigen Erfolge können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Kampf um den Erhalt des Stadtteils auf anderem Terrain längst verloren ist. Seit Mitte der achtziger Jahre und besonders seit 1997 wird in der Altstadt gebaut. Die Alten sterben, ihre Kinder lassen die Baracken abreißen und verkaufen die Grundstücke oder bauen selbst. Auch auf kleinsten Grundstücken wird mit drei- bis vierstöckigen Neubauten Geld verdient.

»Was sollen wir machen, so ist das Leben«, lautet Marikas Standardkommentar, wenn die Bulldozer wieder eines der alten Häuser in der Nachbarschaft abreißen. Wichtig sei nur die Gesundheit und dass ihr niemand im Alltag hereinrede. Das habe sie schon immer so gehalten. Vor mehr als 50 Jahren hat sie nur ein Jahr nach der Hochzeit ihren Mann rausgeschmissen. »Er war ein schlechter Mann«, mehr sagt sie dazu nicht. Seitdem meistert sie ihr Leben gegen viele Konventionen in der zutiefst patriarchalischen Gesellschaft.

Der Widerstand gegen die Sanierung der Altstadt ist inzwischen abgeflaut. Die »Villa Barbara« wurde geräumt. Gegen 100 private Häuslebauer ist schwerer Widerstand zu leisten als gegen die städtischen Behörden. Im Oktober wird auch mein Hausbesitzer das Häuschen abreißen, in dem ich gelebt habe, und es neu bauen. Marika wird dann nach drei Seiten auf hohe Betonwände blicken und sich wie in einer Schlucht vorkommen, wenn sie auf ihrem Balkon sitzt. Nach ihrem Tod wird dann auch diese Lücke durch einen Neubau geschlossen werden. Doch so weit ist es noch nicht. Im Oktober 1999 haben erneut Leute aus der anarchistischen Szene ein Haus in der Ano Poli besetzt. »Mavri Gata« - Schwarze Katze heißt das neue Zentrum. Und Marika hat während der Renovierung für die BesetzerInnen gekocht.

In der Eurotop-Serie berichten wir in loser Folge aus europäischen Städten. Bisher erschienen: Istanbul (Jungle World, 28/00), Wien (30/00), Krak-w (32/00) und Luxemburg (34/00).