Euros für den Staatsanwalt

Weil er einem Sans-papiers zur Flucht verholfen haben soll, wurde in Frankreich ein Gewerkschafter verurteilt

Für "ein offenes Europa, für die Rechte und Freiheiten der Ausländer" wollten über 3 000 in Italien lebende Immigranten am letzten Samstag im März nach Paris kommen. In Rom hatten sie mit Hilfe gewerkschaftlich organisierter Eisenbahner zwei Sonderzüge "beschlagnahmt".

Damit kamen die potentiellen Demonstrationsteilnehmer aber nur bis zum französisch-italienischen Grenzübergang zwischen Ventimiglia und Nizza. Die französische Bereitschaftspolizei CRS blockierte die Weiterfahrt der über 3 000 Personen, unter denen auch illegale Immigranten waren. Alle Demonstrationswilligen sollten vor der Einreise nach Frankreich von den CRS-Beamten einzeln die Gültigkeit ihrer Papiere kontrollieren lassen.

Deswegen blieben - neben kleinen Delegationen aus Belgien und der Schweiz - die zirka 10 000 DemonstrantInnen aus mehreren französischen Städten weitgehend unter sich, als sie am Samstagnachmittag in Paris "für die Legalisierung der 'illegalen' Immigranten, für den Stopp der Abschiebungen und die Rückkehr der Abgeschobenen nach Frankreich, für die Schließung der Abschiebegefängnisse" marschierten. Mit dabei waren die an der französischen Regierung beteiligten Grünen, ebenso die linke Basisgewerkschaft SUD und die KP-nahe CGT.

Dabei nutzte die CGT die Versammlung auch zur Mobilisierung gegen die Verurteilung ihres Bezirkssekretärs in Clermont-Ferrand, Michel Beurier: "Freispruch für Beurier" wurde auf zahlreich an die Versammlungsteilnehmer verteilten Buttons gefordert. Am Montag vergangener Woche war Beurier wegen "Beihilfe zum illegalen Aufenthalt" eines Immigranten sowie Gewaltanwendung gegen einen Staatsbeamten zu zwei Monaten Haft auf Bewährung sowie einer Geldstrafe von knapp 500 Euro verurteilt worden. Angeblich soll der Gewerkschaftssekretär im August letzten Jahres einem jungen Sans-papiers aus Senegal zur Flucht aus dem Gerichtssaal verholfen haben. Der Sans-papiers Idrissa Dieng war kurz vorher von einem Gericht in Clermont-Ferrand dazu verurteilt worden, das französische Staatsgebiet zu verlassen.

Ermöglicht wurde Dieng die Flucht durch das Kompetenzgerangel zweier Polizeieinheiten. Die örtliche Polizei in Clermont-Ferrand und die Ausländerabteilung aus Lyon behinderten sich gegenseitig und achteten daher nach dem Ende des Verfahrens nicht mehr auf den Verurteilten. Die Prozeßbeobachter von der Liga für Menschenrechte und der CGT hatten dem entstandenen Chaos noch etwas zusätzliche Unruhe hinzugefügt. Am Gerichtsausgang war außerdem ein Polizist in eine Hecke geschubst worden, und Dieng gelang so die Flucht.

Augenzeugen berichteten der Jungle World zwar, Beurier sei an dem Zwischenfall mit dem Beamten nicht beteiligt gewesen. Aber eine Gerichtsdienerin, die Zeugin der Szene war, beschuldigte den prominenten Gewerkschafter der Tätlichkeit. Der Polizist erstattete Anzeige und behauptete, Beurier habe ihm bei der Auseinandersetzung die Schulter ausgekugelt. Er konnte vor Gericht aber nicht erklären, warum er die angeblich deswegen benötigten schmerzstillenden Medikamente erst am vierten Tag nach den Ereignissen kaufte. Auch ein medizisches Gutachten bestätigte die Anschuldigung des Beamten gegen Beurier nicht.

Die Richter von Clermont-Ferrand befanden die Aussagen des Polizisten und der Gerichtsdienerin dennoch für glaubwürdig und gingen mit ihrem Urteil sogar noch über das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß hinaus. Der Staatsanwalt hatte nämlich nur eine Geldstrafe gegen Beurier gefordert, der inzwischen angekündigt hat, gegen das Urteil in die Revision zu gehen.

Der Straftatbestand der "Beihilfe zum illegalen Aufenthalt" war zuletzt Anfang des Jahres 1997 einer jungen Frau in Lille zur Last gelegt worden: Sie hatte einen afrikanischen Freund und Sans-papiers bei sich beherbergt. Der damalige Richterspruch gab insbesondere unter französischen Intellektuellen Anlaß zu Protesten gegen den vom konservativen Innenminister Jean-Louis Debré eingebrachten Entwurf eines Ausländergesetzes.

Das Gesetz war noch vor dem Regierungswechsel verabschiedet worden, und das von dem Sozialisten Lionel Jospin geführte Kabinett behielt das Delikt der "Beihilfe zum illegalen Aufenthalt" bei. Jean-Pierre Chevènement, linksnationalistischer Nachfolger von Debré, versprach jedoch, der Strafbestand solle künftig nur noch gegen berufsmäßige Schlepper zum Einsatz zu kommen, die "illegale" Arbeitskräfte nach Frankreich einschleusten.

Um so größer ist der Zorn unter Gewerkschaftern und Linken, daß der umstrittene Gesetzesparagraph nun ausgerechnet gegen einen führenden Gewerkschaftsfunktionär angewendet wird. Neben der CGT selbst haben sich auch die meisten anderen Gewerkschaftsverbände - ausgenommen die ihren "unpolitischen" Charakter betonende sozialdemokratische Force Ouvrière - mit dem 52jährigen Beurier solidarisiert. Bereits am 8. März waren über 10 000 Demonstranten aus ganz Frankreich gegen die Verurteilung in Clermont-Ferrand auf die Straße gegangen.

Der persönlich eingeladene Premierminister Jospin wollte sich daran allerdings nicht beteiligen. Schriftlich teilte er mit, er wolle sich "nicht in die Arbeit der Justiz einmischen".