Jetzt kommt der Schmerz

"Spiel auf Zeit" - Brian de Palma verfilmt die Verschwörungstheorie.

Natürlich mag niemand den Verteidigungsminister. Aber würden wir Rudolf Scharping auch umbringen? Brian De Palma beantwortet die Frage für sich und die Gesellschaft positiv. Der äquivalente Würdenträger stirbt. Wir sehen es mit snake eyes (englischer Originaltitel) - "Spiel auf Zeit", das Spiel mit dem Zuschauen.

Und dem triefigen Gesicht von Nicholas Cage. Wer mag ihn? Der He-Man-Fan von fünf bis 80. Doch heute dürfen auch andere ihn lieben. Nicht mal er selbst mag sich, wechselte er doch einst seinen Namen, um nicht mit Onkel Francis Ford Coppola in Verbindung gebracht zu werden. Und in John Woos "Face/Off" durfte er mit John Travolta das Gesicht tauschen. Wer hat schon die Gelegenheit? Und ist nicht Jim Carrey der echte Star - in seiner "Truman-Show"? Niemand darf ins Kino gehen, wie das Feuilleton berichtet, wenn er die nicht sah. Jim Carrey als Opfer. Wie alle. Nur wovon? Vom Fernsehen.

Rick Santoro (Cage) ist auch Opfer - jedoch nicht das eines so modernen Zuschnitts. "Spiel auf Zeit" ist ein Film, der mit handelsüblichen Tricks hantiert. Weder dicke Waffen, aufregende Stunts noch Dritter Weltkrieg werden vorbeikommen. Auch fragt keine 150-Mio-Dollar-Produktion etwa: Do Space Aliens Shave Their Snizz? Oder Vergleichbares. Santoros Gegner heißt: Verschwörungstheorie - und das ist etwas Heimliches und nichts Öffentliches: Der beste Freund ist der Feind, die Army dein Kumpel. Deshalb haben Soldaten in der Politik das Heft in die Hand genommen. Der Staatsterrorist, der sich das alles ausheckte, wird, wenn er gestellt ist, dem Publikum glaubhaft versichern: Ich habe richtig gehandelt.

Es geht um Raketen. Später. Zunächst erlebt man die "Fight Night" von Atlantic City. Schwergewichts-Champ Lincoln "The Executioner" Tyler (Stan Shaw) prügelt den Gegner, bis er selbst auf einmal einbricht. Jetzt kommt der Schmerz! ruft der fanatisch-betrunkene Zuschauer. Da geht Tyler zu Boden, Kamera hin, Kamera her, was macht sie, was macht er. Es kracht und scheppert, die Kugeln fliegen - so sitzt es sich im De Palma-Opus. 14 000 Zuschauer sind auf einen Schlag verdächtig.

Sie benahmen sich komisch, jubelten dem Champ Lincoln "The Executioner" Tyler zu, dem sportlichen Sturmgeschütz. Der Box-Weltmeister, der heute genötigt wird, seinen Titel zu verteidigen, draußen regnet es Katzen und Hunde auf Regenschirm und TV-Moderatorin herab. Der Herausforderer: eine Null! Da schon turnt die Kamera mit uns herum, heraus kommt das Meisterwerk. Das ist "Spiel auf Zeit", und in der kinodürren Zeit bis nächstes Jahr ist das schon eine ganze Menge.

Jetzt fährt das Auge in unserem Kopf herum, daß uns ganz schwindelig wird. Nachher wird die Kamera über die Hotelzimmer gleiten, als habe man die

Decke fortgenommen. Und darunter kommt zum Vorschein: Ein Ehemann, der sich mit der Nutte vergnügt, das Kuschelpärchen, die besoffene Rockband und die Einsamkeit. Nach zwanzig Räumen amerikanisches Haus - die Heldin, die sich freikämpft. Das ist das Gesellschaftsgebäude.

Mit gut 20 Minuten ungeschnittener Eingangssequenz konkurriert "Spiel auf Zeit" mit der von "Soldat James Ryan", keine Frage. Krieg herrscht auch im zivilisierten Staat. Aber wo Spielberg nur zum Lachen anregt, gefriert dem Publikum angesichts der Eingangssequenz von "Spiel auf Zeit" das mitgebrachte Dosenbier im Hals - Luft holen ist schwierig.

Die Cuts behält Orthopädie-Chirurgensohn De Palma also erstmal für sich, der Schmerz aber hat schon begonnen. Im Verteidigungsminister (Joel Fabiani) steckt die erste Kugel, im Bizeps seiner blondierten Kontaktperson (Carla Gugino) die zweite. Und alle sahen es (wenn nicht, hilft die Videoüberwachung), aber keiner war's - die Öffentlichkeit kann ein Problem sein. Eigentlich wollte sie sich doch nur amüsieren, wie der eine Mann den anderen halbtot schlägt. Jetzt hat auch der Komplize zwei Löcher im Kopf, wo er vorher rausschaute, sehen wir jetzt rein. Auch da wird das Geheimste öffentlich.

Gewalt, Menschen, Begeisterung - immer muß der Chef der Grausamkeit alles gleichzeitig auf die Leinwand bringen. De Palma, der Opernregisseur. Glauben wir dem Staatsterroristen, der das Gemeinwesen mit Gewalt und Intrige retten will? Wo sein Gegenspieler Santoro ja ein so verdammt korruptes Schwein ist?

Wir wissen es nicht, er sieht so sympathisch aus. Kevin Dunne (Gary Sinise) - saubere Buchführung, scheckheftgepflegt - ist das komplette Gegenteil Santoros: ein Navy-Commander, der heute auf den Minister acht gibt. Ein Klassejob, Höhepunkt der Karriere. Stolz ist er wie Fähnlein Fieselschweif, daß ihm beinahe die Uniform platzt. Während Rick wie früher aus dem Hawaii-Hemd nur das Brusthaar wächst.

Der Kampf beginnt, als sich Dunne im Gewühl verliert. Er stieg einer auffälligen Rothaarigen hinterher (die sich ohne Karte einschmuggelte). Die Schüsse fallen, die Panik wächst. Schon liegt der arabische Attentäter tot in der Loge. Santoro sucht seinerseits die Frau, die so aufgeregt auf den Minister einredete. Dabei findet er den zerknirschten Dunne, der den Feind zwar noch erlegte, ihm aber das Mörderhandwerk leider zu spät legte. Wir machen das unter Männern, schlägt Santoro vor, dirigiert die ganze Halle, dem FBI erzählt man was.

Spurensicherung im Videoraum. Santoro muß entdecken, daß Tylers K.o. nur vorgetäuscht war. Der Boxer muß es zugeben, auch, daß er bestochen war. Die Zufälle häufen sich, gibt man ihnen eine Theorie. Aber Dunne streitet alles ab: Für ihn ist klar, nur der Mann mit dem Pali-Tuch war der Täter. Für Verschwörungen sei kein Anlaß. Heute seien alle aus dem Kreis des Ministers und Casinobesitzer Powell (John Heard), Waffenproduzent und Rüstungslobbyist, bester Dinge. Die letzten Tests für die neue Rakete seien doch so glücklich verlaufen. Dem Geschäft steht also nichts im Wege, warum sollte einer sterben?

Doch die USA sind ein friedliches Land geworden unter Bill Clinton, da hat die Armee - innenpolitisch - schlechte Karten. Mit der Verfaßtheit des Staatswesens wird es selten gut gemeint, verwanzt ist es, und auch verfilzt. Selbst der Polizist muß noch allein ermitteln, weil mit seiner Behörde nichts stimmt. Daher überwacht er bei Demo, Sport, Arztbesuch und Beischlaf.

Die Verschwörungstheorie lieben wir. Nicht linksextremistische oder islamistische Wahnsinnige stellen die Bedrohung dar, sondern Freunde und Bekannte in Sozialamt, Militärbehörde und Kfz-Meldestelle. Für den ordnungsliebenden Puritaner eine jungle world. Niemandem kann man glauben, also hat man selbst zu handeln. Erst wenn sich diese Weisheit durchgesetzt hat, wird auch bei Santoro der Groschen fallen und er in der Lage sein, das Geschehene zu erklären. Dunne und Santoro, das sind die ungleichen Brüder, die sich verschiedenen Vaterfiguren und ihrer Moral verschrieben: der eine der falschen Autorität, der andere wußte gar nicht, daß er einen Vater hat.

Und deswegen erscheint die Entschuldigungsrede des Haupt-Attentäters auch so plausibel. Man bringt nicht jeden Tag eine Reihe Leute um. Einfühlsam argumentiert er, überzeugend und apodiktisch wie ein Angehöriger eines JosephFischer-Einsatzkommandos, das im Kosovo liebevoll eine Katze vom Baum retten würde. Zitiert die Weltherrschaft des Bösen, den Golfkrieg und die Schreie der 28 Männer im Maschinenraum des untergehenden Kriegsschiffes. "Wir brauchen die Rakete, um unsere Männer zu schützen."

Wir glauben ihm und würden auch so handeln wie er, Widersprüche wären unbekannt und notfalls würde man töten. Korruption. Mafia. Terror. Am Ende wird Meredith Brooks singen, und aus dem Betonklotz lugt nur noch der Edelstein am Ringfinger.

"Spiel auf Zeit" ist ein echtes Herrschaftsdrama, das die Machtfrage stellt und hernach wieder Ruhe einkehren läßt. Wer geht hin, worum geht's, wer hat was zu sagen, wer ist der liebe Gott in der Demokratie. Irdische Anschlüsse haben hier wenig Chancen: Geliebt wird kaum und gegessen auch nicht. Hier werden Bilder gesetzt und anschließend ausgewertet.

Mit der Macht und ihrem Bild verhält es sich wie in De Palmas frühem Film "Carrie" (USA 1976): Die Realität muß überall abgedichtet werden, damit sie nicht wie ein Topf voll Blut über einem ausläuft. Aber so wie sich das kleine Mädchen mit Inferno an den Klassenkameraden und fliegenden Messern an der Mutter rächt, obwohl sie doch alles tun, damit es Frieden gibt - so zerbricht Kevins Verschwörung in "Spiel auf Zeit", obwohl er sie rasend zu verteidigen sucht. Schöner Film - Gewaltklamauk wie "Die Unberührbaren" (1986) oder Gadget-Marketing wie in "Mission: Impossible" (1996) sind vergessen. Das Publikum wird in die Sitze zurückgeholt, es lebt der Quatsch der Popkultur.

"Spiel auf Zeit - Snake Eyes". USA 1998. R: Brian De Palma, D: Nicholas Cage, Stan Shaw, Gary Sinise, John Heard, Joel Fabiani, Carlo Gugino. Start: 19.11.